Geist im modernen Weltbild


Selbstzweifel

Die normale Toleranz der Selbsterkenntnis

Eine der schwierigsten Fragen ist die Überlegung, wieweit man selber eigentlich normal ist oder nicht. Ich habe oft den Eindruck, Sachverhalte, Zusammenhänge und Probleme zu sehen, die für andere schlicht nicht existent sind. Demokratisch betrachtet bin ich heute mit meiner Betrachtungsweise zweifellos ein Spinner.

In der Normalität einer religiös und politisch vorbestimmten Gleichgültigkeit hat mir in jungen Jahren vermutlich der Umstand das Leben erhalten, dass ich mich als neugierig fragender Jugendlicher nach dem Geschichtsunterricht in der Schule zuerst für die Sagen des klassischen Altertums interessiert und daher noch unbelastet von der Selbstverstümmelung des Ödipus mittels Blendung gelesen habe, bevor ich bei meiner weiteren Lektüre an die Psychoanalyse von Sigmund Freud geraten bin.

Wenn sich Ödipus als gebildeter Mann in einer Zeit, als die Selbsttötung noch keine geächtete Sterbeform war, nicht das Leben, sondern mit den Augen den führenden Lichtsinn nahm, ergibt dies zusammen mit der Erwähnung von blinden Sehern einen Hinweis darauf, dass es schon damals Menschen gab, die zwar leben wollten, aber den sichtbaren Zustand der Welt nicht mehr ertragen konnten, weil er vermutlich nicht mit dem Bild von der Welt in ihrem Kopf übereinstimmte.

Die mögliche Diskrepanz von Normalität und Realität ist die Grundlage jeder gedanklichen Auseinandersetzung. Die Selbstverstümmelung ist folglich der klassische Vollzug eines gedanklichen Suizides und findet den Ausdruck aktuell im Elend der Drogensucht, wozu auch die unfreiwillige in den psychiatrischen Kliniken zu zählen ist, soweit nicht eine klare medizinische Indikation vorliegt.

Doch die Sache mit den Spinnern hat eine noch unangenehmere Kehrseite: Die normale Mehrheit, deren Bild von der Welt im Kopf mit der sichtbaren Welt übereinstimmt, hat naturgemäss keinen Zugang zur Realität, die ja eben nicht mit dem übereinstimmt, was sie sehen, hören, spüren, riechen und schmecken neben fühlen, ahnen, glauben, hoffen und meinen. Die Welt ist für die Menschen nie so, wie sie es gerne haben möchten.

Das dem normalen gesunden Menschen angeborene Glauben als Funktion betrachtet entspricht heute vielleicht in etwa den Vorstellungen der Agnostiker. Die Lehre von der Unerkennbarkeit des Seins beinhaltet bereits das funktionelle Prinzip der Wahrheit und ist vermutlich die normale Denkart der Mehrheit, die auf der jetzigen Evolutionsstufe tatsächlich selber nie über die Normalität ihres persönlichen Zustandes hinausblicken wird und nur und ausschliesslich über so genannte Spinner ab und zu an die Realität erinnert werden kann.

Wenn Menschen heute Erbarmen haben mit den Riesenmeeres-Schildkröten, die ihre Eiablageplatze nicht an die veränderten Umweltbedingungen anpassen können und dadurch vom Aussterben bedroht sind, wird vergessen, dass jenes auf die keltischen Kulturen folgende Europa seit der römischen Besetzung seine eigene Denkfähigkeit, das heisst jene Menschen mit einer Vorstellung von der Welt, wie es sie für die Mehrheit noch gar nicht gibt, in die direkte oder indirekte Tötung getrieben hat, weil diese Menschen eine angeborene irrationale Komponente mit sich führen müssen.

Was man früher noch nicht wissen konnte, ist die Tatsache, dass es Menschen mit biologisch bedingten Abweichungen in der Wahrnehmung als war-nehmen gibt, welche einen erweiterten Zugang zur Realität ermöglichen bzw. zur Folge haben.

So können beispielsweise ungefähr 6% der Menschen mit ihren Augen keine absolute Tiefenschärfe herstellen, was trotz des minimalen doppelten Sehens keine Behinderung darstellt, weil es eine nicht wahrnehmbare Variante der Natur ist. Das Paradox in der gedanklichen Ebene, dass etwas zugleich richtig wie falsch sein kann, ist auch in der biologischen Ebene vorhanden, indem es z.B. eine stereoskope Optik gibt, die doppelt sehen kann ohne zu schielen.

Im Vergleich mit den anderen 94% sehen diese Augen die Umwelt aber etwa so, wie wenn sich andere einen Fernsehfilm ansehen. Das Bild von der Welt, wie es durch solche Augen ans Sehzentrum vermittelt wird, stimmt von Geburt an nicht mit dem genetisch im Zwischenhirn gespeicherten Abbild von der Welt überein, diese Menschen müssen sich schon längst zwischen reinem Glauben oder reinem Denken entscheiden und die Zusammenhänge selber herstellen, wie es durch die Natur von der Mehrheit noch nicht erzwungen wird.

Durch das weitgehende Fehlen der optischen Perspektive hat das angeborene Glauben keine Grundlage, weil das Faszinosum der Unheimlichkeit ohne Tiefenschärfe nicht entsteht. Ein solcher Mensch, wenn er sich nicht als Spinner dem reinen Glauben zuwenden sollte, merkt bereits in jungen Jahren plötzlich, dass er die Welt völlig anders sieht wie Andere, und bekommt ein riesiges Problem, weil diese von der Natur vorgesehene Variante einer gedanklichen Tiefenschärfe in den allgemein gültigen Denkmodellen der Menschen noch immer nicht enthalten ist.

Was schon analog Ödipus am Übergang von der vegetativen zur gläubigen Existenz zu Schwierigkeiten führte, hat in unserer Gesellschaft am Übergang von der gläubigen zur denkenden Existenz fast gar keinen Raum mehr. Wenn die Evolution den Wandel vom Glauben zum Denken erzwingt, und daran gibt es für kommende Generationen keinen Zweifel, besteht die Katastrophe darin, dass es für die 95% der normalen Menschen bis jetzt nur die Wahl gibt, welche Form von Sucht jedes unabhängige und selbständige Denken im Keime zerstören kann, weil die Mentalität als Folge der Psychologie nicht auf der Realität, sondern auf dem reinen Glauben an die normale Wirklichkeit der demokratischen Mehrheit beruht.

Wer schon heute den Schritt vom Glauben zum Denken bewältigen will, muss unter herkunftsbedingten Umständen mittels Selbsterkenntnis zwei Jahrtausende teilweise sogar gewalttätig verordnetes Glaubensbekenntnis überspringen können, als hätte es diese gedanklichen Weltreiche nie gegeben.

Und hier endlich finde ich auch den Anlass meines Einsatzes. Die Mehrheit meiner Mitmenschen, für die ich eine Art Spinner sein muss, will ausgerechnet diese zentrale Befreiung des Denkens, wie ich sie durch die Erlösung der Seelen in keltischer Geschichte für mich persönlich mit einem mir selber nicht fassbaren Glück ohne Selbstverstümmelung erarbeiten konnte, in der Weise vollziehen können, dass sie einfach die gedankliche Ebene in ihrer ideologischen Behauptung vom Sein mit der Metapher Bewusst-Sein verdrängt und meint, es genüge vollkommen, prinzipiell jeden Umgang mit religiösem Fragen zu vermeiden und statt dessen möglichst viel Geld und Spass an der Freud zu haben.

Da Generationen kommen, die von Natur aus nicht mehr glauben und in den bestehenden Gesellschaft-Strukturen auch nicht denken können, frage ich mich schon, wie denn meine Mitmenschen diesen Widerspruch lösen wollen, wenn der Ausgleich im Denken zwingend als angeborener religiöser Impuls vorgegeben ist.

Mit Geld kann man jedenfalls keine Zeit zurückkaufen.

Für Märchenliebhaber, die weiterhin Vorbedachtes nachdenken wollen und daher zwingend einen Anfang benötigen, muss ich vielleicht noch beifügen, dass es möglich ist, den in meinem Denken nicht nötigen Anfang als Märchen zu erklären, wenn man ihn sich aus der Entwicklung heraus vorstellen kann. Rein gefühlsmässig meine ich, wird es nicht mehr lange dauern, bis Menschen auch in einer vierten Dimension denken können.

Anhand eines Substrates aus einer Welterklärung kann, so man will und sich die Zeit für ein eigenes nimmt, die persönliche Frage gestellt und überprüft werden, ob bereits ein Denken ohne Glauben überhaupt an sich schon möglich ist. Im Gegensatz zum Glauben kann man das Denken nämlich nicht manipulieren, sondern nur die funktionellen Eigenschaften weitergeben in dem Sinne:

Bleibe wie du bist, wenn du zweifelst
Denke an deine Nächsten, wenn du Hilfe brauchst
Gehe erst weiter, wenn du verstanden hast