Geist im modernen Weltbild


Selbständigkeit

Die Qual der Wahl

Pflicht wird allgemein als Gesetz verstanden und nicht als optimale Position im Zusammenhang. Die verflachende Auffassung der Pflicht geht zurück bis auf den griechischen Stoizismus, der im letzten Jh.v.Chr. zunehmend zur bestimmenden Denkweise in der römischen Gesellschaft wurde. Die stoische Ethik forderte naturgemässes Leben, Duldung von Leiden und Streben nach der Tugend als der wahren Glückseligkeit. Aus den Briefen von Tullius Cicero über das pflichtgemässe Handeln wird bereits um 70 v.Chr. eine Sittenlehre sichtbar, die jener des späteren europäischen Christentums nahezu identisch ist. Wieweit im römisch besetzten Palästina das Wirken des Jesus von Nazareth davon beeinflusst wurde, ist lediglich vorstellbar. Jedenfalls war der Begriff der Nächstenliebe schon für Cicero eine sittliche Tugend und ist damit ein Element aus der griechisch-römischen Metaphysik eines materialistischen Pantheismus, der das singuläre Ganze mit dem "Alleinigen" gleichsetzt, deshalb die Willensfreiheit des Individuums leugnet und dafür die Gleichheit aller Menschen behauptet.

Man darf nie vergessen, dass diese Vorstellungen aus der früheren polytheistischen Teilung des Objekts resultierten, nach der dann die späteren realen Subjekte auf keine Art und Weise mehr zusammengefügt werden konnten. Die Sehnsucht von Menschen nach der Erkenntnis, wer man eigentlich ist, führte zur Gnosis, die als spätantike religiöse Strömung mit dem entstehenden Christentum zusammenstiess und zum erbittert bekämpften Gedankengut der Alten Kirche wurde.

Während in der Gnosis die Erkenntnis zur Erlösung führt, übernahm das Christentum die dualistische Vorstellung aus dem Vorderen Orient, wonach der Herr die Vorbedingung der Erlösung bestimmt, wie er sie durch seinen Sohn kundtat. Wieweit allerdings dieser Sohn, der sich als solchen bezeichnet hat und hingerichtet wurde, selbst einem gnostischen Anfall erlegen ist, blieb in der Folge offen.

Zur Erinnerung: Nach der Überlieferung durch Julius Cäsar waren alle Kelten schon in vorchristlicher Zeit davon überzeugt, direkt von Dispater abzustammen. Was der Römer mit dieser auf seine eigenen Vorstellungen bezogene Schilderung genau meint, entzieht sich unserer Kenntnis. Sicher ist, dass die Kelten im gnostischen Sinne über die Erkenntnis verfügten, woher sie kamen und wohin sie gingen, weil Dispater sowohl den Tod brachte als auch vom Tode auferweckte.

In einem erweiterten Sinn waren sie als wieder auferstandene göttliche Wesen etwa auf demselben Stand wie die heutigen entrückt strahlenden Menschengruppen, wenn diese ein Lied wie "Wir sind alle Kinder Gottes" singen, allerdings mit einem völlig gegensätzlichen Verständnis der Pflicht.

Während für einen Kelten die schlimmste Bestrafung darin bestand, von der Teilnahme an Aktivitäten der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, gehört es heute schon fast zum guten Ton, sich selber als den Nabel der Welt zu sehen, obschon die Ausgrenzung noch heute für die Einzelperson eine lebensgefährliche Angelegenheit darstellt. Wer selbst von seiner geliebten nächsten Umwelt nicht mehr verstanden wird, weil beispielsweise das autodidaktische Denken, also vor allem das Selbststudium, zwangsläufig zu Widersprüchen mit der Allgemeinbildung führt, bewegt sich schon recht nahe an der Grenze zum von der Gesellschaft erzwungenen Ausschluss der als vermeintlich schizophrene Geisteskrankheit eingestuften Irrationalität.

Es scheint zu den ungeschriebenen Gesetzen zu gehören, dass der Individualismus auch bei vollständiger Erfüllung von gesetzlicher Pflicht zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt, wenn nicht eine Ausrichtung und Anpassung an zeitgenössische Gewohnheit erfolgt. Man sagt dann, die Wellenlänge sei nicht gleich, die Frequenzabstimmung sei nicht möglich, die Chemie stimme nicht oder dergleichen mehr, was interessanterweise Begriffe aus der physikalischen Ebene sind, die an sich richtig gesetzt, aber anders gemeint werden.

Man hat dann zwar nichts Konkretes gegen eine Person als solche, aber lieber hat man möglichst nicht direkt mit ihr zu tun. Man toleriert das Sonderbare und Eigenartige, so lange noch andere Gründe, beispielsweise das Interesse am beliebten Partner der unbeliebten Person, den man nicht ebenfalls verlieren möchte, die offene Ablehnung zu verdecken vermögen. In der Folge ist der Autodidakt dazu gezwungen, fast jeden Blödsinn zu ertragen, wenn er die Situation nicht zum Eklat bringen will.

Dieser Zustand ist in Bezug auf vergangene Ereignisse völlig normal und ohne weiteres ertragbar, ich meine an dieser Stelle eine auf die Zukunft gerichtete Zielvorstellung im Zusammenhang mit einer in der Gegenwart vollzogenen Handlung. Der griechische Stoizismus und später die monotheistischen Religionen, welche die Willensfreiheit der Person bestreiten und die Gleichheit aller Menschen behaupten, führten indirekt zu einer latenten Persönlichkeitsspaltung, die in Form des ausgeprägten Egoismus auch als Schizophrenie bezeichnet werden könnte, wenn die entsprechenden psychologischen Lehrmittel nicht exakt diese allgemein gültige Unterwerfung des Individuums zum Zweck haben.

Reizvoll, aber ebenso falsch wäre nun die nahe liegende Versuchung, die monotheistischen Glaubensstrukturen an sich als geisteskrank zu bezeichnen und zur Tagesordnung übergehen zu wollen, ohne die Hintergründe aufzuarbeiten, was aber ein fataler Sprung ins Leere bedeuten kann. Belegt ist nämlich, wie der stoische Philosoph Panaetius ursprünglich auch das Nützliche von dem Sittlichen getrennt behandeln wollte, diesen dritten Teil seines Werkes aber wegliess, worauf sich die auf Sokrates gestützte Lehre von Aristoteles durchsetzte, nach der Nutzen und Sitte untrennbar verbunden seien. Diese auf Harmonie ausgerichtete Ethik konnte das persönlich Vorteilhafte nicht mit dem Fortschritt des Ganzen verbinden. Heute sagt der Volksmund dazu: von nichts kommt nichts und im Zweifelsfall nützt es nicht, schadet es nicht, also eine klare Trennung von Sitte und Nutzen, die bis auf den heutigen Tag keine philosophische Grundlage hat. Wohl aber eine genetisch-historische Bestätigung im Umkehrschluss; in der Natur ist jeder Nutzen einerseits auch ein Schaden andererseits.

Die Kulturpflicht ist also im Grunde genommen nichts weiter wie die Beachtung dieser Wechselwirkung unter Vermeidung verallgemeinernder Prinzipien. Bemerkenswert ist auf jeden Fall der ähnlich widersprüchliche Aufbau der zeitgenössischen Psychologie verglichen mit der Glaubensfreiheit einer im Namen des Allmächtigen wirkenden Verfassung. Die Widersprüche, die sich in einer intellektuellen Ohnmacht äussern, sind mit den vorhandenen philosophischen Methoden nicht mehr aufzulösen.

Die Gedanken und das sich von etwas bewusst sein [nicht gleich der ideologischen Behauptung vom Sein mit der Metapher Bewusstsein] der Menschen sind genau so natürlich sind wie alles andere auch. Die geniale Technik des Menschen ist Natur wie auch der vollkommene Schwachsinn und alles ist Teil der Schöpfung, in der nichts Sinnloses entsteht.

So wie durch Selbstbeherrschung die Unabhängigkeit entsteht, ermöglicht erst die kultivierte Trennung von Nutzen und Schaden eine Einordnung der Ereignisse und Sachverhalte in korrekte Zusammenhänge, weil nun Vergleich, Bewertung und Urteil möglich sind.

Es ist eine wesentliche Voraussetzung der Selbständigkeit, ob man den Menschen und somit sich selbst als einen solchen kulturellen Teil anerkennen kann oder nicht. Auf den ersten Blick mag dadurch die Pflege der anerkannten Leistungen der bildenden Künste an Reiz verlieren, man kann sich allerdings auch dessen bewusst werden, wieweit die Reproduktion von genialen Leistungen kulturelle Entwicklung hemmt oder fördert.

Es macht einen Unterschied, ob Kultur aus einer elitären Grundhaltung heraus als Teilnahme an einer gemeinsamen Aufgabe entworfen und nachgelebt wird oder ob sie in der lebendigen Verbundenheit des einzigartigen Denkens bereits Realität ist.

Der Begriff der Selbständigkeit vermag einen Hinweis darauf zu geben, wie schonungslos selektiv auch die gedankliche Dimension funktioniert. Dazu gehört beispielsweise das weit verbreitete Unverständnis, was die von den Massenmedien unter dem Titel Kultur geführten Beiträge mit Kultur zu tun haben sollen. Der leichte Sinn des schönen Geistes ist sehr wohl ein Zauber für den Geniesser, der Zeit seines Lebens den Leichtsinn seines Schöngeistes nicht wahrnehmen wird.

Im übertragenen Sinn sind die Gedanken von der Seelenwanderung und der Wiederverkörperung des Gedankengutes durchaus nicht so tröstlich, wie es oberflächlich den Anschein machen könnte, werden doch selbst Trost und Hoffnung zu Werkzeugen menschlicher Erfahrungen, die einen direkten Bezug zur Kulturpflicht haben.

Kein Mensch kann auf Dauer die gnadenlose Einsamkeit eines personifizierten Denkens der Ichbezogenheit durchstehen, und nichts anderes ist die Exkommunikation beziehungsweise die gesellschaftliche Ausgrenzung, weil dieser Zustand in den Zusammenhängen nicht sichtbar wird. Das frühere Gott straft sofort bezeichnet solche Erfahrungen und meint das zwangsläufige Resultat von Verhalten im Sinne versäumter oder verletzter Pflicht.

Nun ist aber anzunehmen, dass sich alle richtig zu verhalten glauben. Es geht also sicher einerseits darum, die Wahl zu treffen zwischen richtig und falsch und andererseits um die Vollständigkeit der Auswahl. Beides funktioniert nur mit Denken, doch wie soll dies möglich sein, wenn bezüglich Weltbild eine Kultur des Denkens fehlt? Einige Grundsätze können daher nicht schaden.

Der Wichtigste: Über Sein oder Nichtsein von allen Menschen selbst haben schon deren Vorfahren entschieden, indem sie existierten und sich fortpflanzten. Daran gibt es keine Zweifel. Ich meine hier allerdings die Jahrmillionen und nicht die paar Jahrtausende etwelcher moralisierender Geschichtsschreibung.

Jetzt darf in diese biologische Vegetation auf gar keinen Fall ein vergeistigter Bezug zur lebenden Person hinein interpretiert werden. Die genetische Reproduktion kann nur aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel erfasst werden und taugt nicht zur Ableitung selbstgefälliger Betrachtungen religiöser Art. Die momentane Existenz von Leben ist sowohl reiner Zufall wie auch bedeutend im Hinblick auf die weitere Entwicklung. Es ist am besten, den eigenen Stammbaum nur als das zu sehen, was er ist: Die Geschichte der Familie als wertvolles Hilfsmittel zum besseren Verständnis seiner selbst.

Von Bedeutung ist dagegen, was die Einzelperson selber mit dem genetischen Erbmaterial weiter macht. Alle haben die Wahl und die Kompetenz zur selbständigen Entscheidung innerhalb ihrer Möglichkeiten. Das mag öfters eine Qual sein wie nicht, doch im Rückblick ist der ehemals schwere Verzicht immer besser als ein nicht wieder rückgängig zu machendes unerwünschtes Resultat. In Bezug auf die Selektion aus der Vielfalt inklusive derer Pflege geht es nie darum, dass Menschen wie perfekte Roboter alles richtig machen müssten, vielmehr wird bereits durch die Vermeidung der im Zusammenhang vorhersehbar falschen Handlung der Anschluss an die zukünftige Entwicklung erreicht.

Die schwierigste und auch gefährlichste Phase vor dem Erreichen einer unabhängigen Selbständigkeit ist die eigene Position in den Zusammenhängen, weil erst die möglichst korrekten Bezugspunkte erarbeitet werden müssen. Dabei ist der Grundsatz wichtig, dass es keine allgemein gültigen Prinzipien geben kann, sobald es sich um singuläre Vorgänge handelt.

Da ein Mensch noch nicht einmal weiss, was am Übergang der Flora zur Fauna auf der Stufe der Viren, Bakterien und Pilze in Zukunft weiter geschieht, hat er sich auch in Bezug auf die weiter entwickelten Lebewesen inklusive seiner selbst jeder diesbezüglichen Behauptung zu enthalten, wenn er nicht unvermittelt auf einer ideologischen Ebene erwachen will.