Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Das letzte Vaterland

Nach dem Tod der Eltern meines Vaters kam es zum Verkauf der Liegenschaft zwecks Erbteilung unter den vier Geschwistern. Mein Vater war, so gesehen, bis zu diesem Verkauf der Letzte im Stammbaum mit eigenem Vaterland.

Die Entwicklung des bäuerlichen Erbes

Die ursprüngliche ländlich bäuerliche Bodenleihe hatte ab dem Frühmittelalter (6.-10. Jh.) in der Grund-Herrschaft neue Formen entwickelt. Zur Bewirtschaftung überliessen Adelige und geistliche Grundherren ihren Arbeitskräften einen Teil von ihrem Besitz in Lehen auf Lebenszeit.

Ab Ende des 13. Jh. setzte sich eine neue Leih-Form, die Erbleihe durch, wodurch ein Bauer, ob Freier oder Leibeigen, den Leihe-Hof seinen Nachkommen vererben konnte. Sie wurde noch im 16. Jh. zur wichtigsten Leihe-Form, verdrängte aber die kurzfristigen auf Lebenszeit nicht völlig. Der Leihe-Nehmer übernahm vom Grundherrn ein Einzelgrundstück zu voller Nutzung. Leihe-Form, Laufzeit, Zins und Zinstermin, Zustand des Leihe-Gutes bei Rückgabe wurden nach örtlichem Brauch und in persönlicher Absprache festgelegt. Über den Zins an Geld und Naturalien (Ackerfrüchte, Wein, Fleisch, Eier, Holz, Tuch usw.) partizipierte der Grundherr am Hof-Ertrag, über Frondienste an der Mannsleistung. Zinsnachlässe galten bei Missernten, Naturkatastrophen und Krieg. Das pachtähnliche Zinslehen fiel nach Ablauf der vereinbarten Zeit an den Grundherrn zurück, der frei war, es selbst zu bewirtschaften oder neu zu verleihen. Oft aber blieben kurzfristige Hof-Lehen bei wiederholter Übertragung dem Bauern bis ans Lebensende.

Ein neues Element kam mit dem Erblehen auf: Vererbbarkeit förderte den sorgfältigen Umgang des Bauern mit dem Leihe-Gut, über das er nun volle Sach-Herrschaft ausübte. Nach der allgemeinen Abmachung war der einmal vereinbarte Jahreszins zwar nicht ablösbar, aber auch nicht steigerbar. Die durch Arbeit und Investition erzielte Wert-Vermehrung kam als Mehrwert dem Bauern zu. Aus dem Mehrwert entstand der Verkehrswert, der sich am Zustand, an Erträgen und Zinsbelastung des Hofs bemass. In der Praxis kaufte der Bauer den Hof, d.h. dessen Mehrwert, vom Vorgänger. Er leistete dann dem Grundherrn den Lehen-Eid, ein Treue- und Sorgfaltsversprechen, und empfing von ihm den Hof zu Erb-Lehen.

Die ursprünglich grundsätzlich verbotene Teilung, Tausch, Verkauf, Verpfändung oder Belastung liess sich bei Erblehen nicht mehr durchsetzen: Schon im Spätmittelalter (1250-1500) belasteten Natural- und Geldzinse die Höfe und ab dem 16. Jh. immer mehr auch Bodenkredite (Gült). Hofteilungen mussten ursprünglich vom Lehen-Geber bewilligt werden, doch schon im 17. Jh. war in den Ackerbau-Dörfern Realteilung unter Erben die Regel. Grundstücke wurden zunehmend frei verkauft, gekauft, getauscht, verpfändet und belastet. Die Bauern behandelten Leihe-Gut wie Eigentum. Der Bauer war praktisch zum Eigentümer, der Lehen-Herr zum Bezüger geworden. Insgesamt bewirkte die Erbleihe eine Besitzverschiebung zugunsten der Bauern. Die Helvetik schaffte die Feudal-Lasten 1798 ab und erklärte Boden-Zins für ablösbar (1867 generell gelöscht). Der Lehen-Bauer war damit auch offiziell Eigentümer seines Hofes.

Bei Bauern-Lehen liess sich lehenrechtlich eigentlich nur der Mehrwert teilen, nicht aber der Hof. Das verbreitete Jüngsten-Erbrecht (Minorat) der Einzelhöfe diente der Bewahrung einer wirtschaftlichen Hofgrösse, das vor allem im Adel und ab dem 16. Jh. im Patriziat praktizierte Ältesten-Erbrecht (Majorat) der Herrschafts- und Vermögenserhaltung. Im Weiler- und Einzelhof-Gebiet der Nordostschweiz hielt sich das Allein-Erbrecht eines Sohnes am ungeteilten Hof, mehrheitlich als Minorat; Geschwister wurden nach der tiefen amtlichen Schätzung ausgesteuert. Als Voraus-Erbe für Töchter galt das Braut-Fuder (Zürich). Im Dorfgebiet waren Erben-Gemeinschaften im 16. Jh. zwar häufig, doch selten von langer Dauer. Dafür verbreitete sich die Real-Teilung unter Erben, bis sie schliesslich die Regel war und was, wie in meinem Fall, schliesslich zum Verkauf des Bodens durch meine Vorfahren zwecks Kapitalisierung zur Auszahlung der Erben führte (Hof im Herner in Horgen).

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), "Leihe" von Anne-Marie Dubler, Version vom 10.02.2012. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008974/2012-02-10/