Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Selbständigkeit

Ein schon bestehendes Geschäft mit einem intakten Umfeld zu übernehmen sei ein guter Vorschlag, meinte Vater zu meinem Kauf-Vorhaben mit seinem Darlehen und sollte recht behalten. Vom ersten Tag an klingelte die alte Registrierkasse bei jedem öffnen der Geld-Schublade. Die Stamm-Kundschaft vom Lebensmittel-Geschäft an der Ecke zweier Quartier-Strassen ohne viel Passanten war vorhanden und akzeptierte uns als neue, junge Inhaber.

Quartierladen
Milch- und Lebensmittel-Geschäft im Quartier

Für uns, gestern noch Sachbearbeitung in der Privat-Bank, war alles neu. Doch wir lernten rasch. Bereits beim gemeinsamen Inventar mit den Vorbesitzern lernten wir das gesamte Sortiment kennen wie auch die diversen Maschinen und Apparate. Das bestehende Bestellwesen mit den Lieferanten blieb vorerst unverändert. Verträge waren keine zu übernehmen, wir waren absolut frei im Einkauf. Alle Lieferungen erfolgten gegen Rechnung 30 Tage netto.

Am Nachmittag vom Vortag wurde telefonisch die tägliche Bestellung durchgegeben für Milch, Rahm, Jogurt, Butter, Käse. Die Anlieferung per Lastwagen erfolgte frühmorgens mit Schlüssel in das noch geschlossene Geschäft. Die Produkte wurden nach unserem Eintreffen kurz danach als Erstes in die acht Wand-Kühlschränke einsortiert. Im Keller ratterte jeweils nach Bedarf einer der beiden Kompressoren für die Kühlung der Schränke.

Die Spezialitäten brachte jede Woche ein Gross-Händler, der mit seinem gekühlten Verkaufs-Lastwagen vor unserem Laden parkte. Wir führten im offenen Anschnitt nebst Greyerzer, Emmentaler und Sbrinz vom Milchlieferanten noch Appenzeller, Tilsiter (rot und grün), Walliser Bergkäse, Saint Albray, Chaumes, Camembert, Taleggio, Parmesan, Mascarpone, Gorgonzola. Die Berkel-Schneidmaschine war für Salami (fein und grob), Mortadella, Parmaschinken, Bure-Speck, Press-Schinken ohne Phosphate, Fleischkäse.

Gemüse und Früchte wurden von uns täglich morgens in der Halle vom Gross-Markt eingekauft. Wir hatten uns ein Kombi-Fahrzeug mit Dachträger angeschafft für Einkauf und Hauslieferungen. Der Bierlieferant fuhr wöchentlich mit dem Hürlimann-Pferde-Gespann vor und tauschte selbständig die leeren gegen volle Flaschen-Harasse. Ein Eier-Händler glich einmal die Woche selbständig den Vorrat an Frisch-Eiern im Keller aus. Jede Woche fuhren wir zum Gross-Händler (Cash&Carry, Prodega und Angehrn) für den Einkauf der Kolonial-Waren, Zigaretten und übrigen Haushalt-Artikel. Bei Gelegenheit kauften wir auch Halb-Preis-Aktionen von Discountern. Mineralwasser und Limonade lieferte ein Getränke-Dienst nach Bedarf auf Bestellung, den Wein ebenso eine Weinkellerei und Frisco die Glace-Produkte. Für die Anlieferung befand sich beim Parkplatz eine Luke mit Eisendeckel und einer Rutsche zum Tisch-Sockel im Keller, wo die Waren mit Preis ausgezeichnet wurden mit einem Etikettier-Gerät.

Einige Kundinnen holten die Milch noch offen im Kessel ab. Der Verkauf von frischer Rohmilch brauchte eine Bewilligung. Dazu musste ich eine Prüfung bestehen beim Lebensmittel-Inspektor, welche nachwies, dass ich über den Fettanteil (Rahm) der Milch, deren korrektes Umrühren sowie die fachgerechte Reinigung der dazu benötigten Utensilien Bescheid wusste.

Die beiden geeichten Waagen wurden periodisch nachgeprüft vom Eichamt. Die Alkohol-Verwaltung schrieb die Führung eines Journals vor über den Einkauf von gebranntem Wasser. Unangemeldet kam die Lebensmittel-Kontrolle zu Besuch und prüfte Kühl-Temperaturen und Sauberkeit, immer ohne Beanstandungen.

Die Ladenöffnungszeiten setzten wir fest auf 7.30-12.30, 15.00-18.30, Mittwoch-Nachmittag geschlossen, Samstag 7.00-16.00 durchgehend. Sonntag geschlossen.

Im Laden war keine Selbst-Bedienung. Die Kundschaft wurde persönlich begrüsst, bedient und verabschiedet, möglichst mit Namen. Wir waren ohnehin beide von Haus auf anständig und freundlich, zusätzlich war meine Frau Trudi mit ihrer herzlichen, umgänglich einnehmenden Wesensart ein Sonnenschein. Viele Kunden kannten sich aus der Umgebung und nutzten die Begegnung bei uns zum Gespräch. So entstand auch bei Wartezeiten keine Unruhe oder Hektik.

Meine Frau arbeitete noch im 9. Monat bis zum letzten Tag vor der Geburt unseres ersten Sohnes. Mit ihrem Frauenarzt hatte sie vereinbart, dass an Auffahrt der Gebär-Vorgang eingeleitet werden soll, weil dann unser Geschäft geschlossen sei. Wir hatten schon frühzeitig eine Zusatz-Privat-Versicherung für Schwangere abgeschlossen. Trudi konnte als Privat-Patientin in der Klinik Hirslanden in Zürich entbinden. Dass sie mich nicht dabei haben wollte war mir noch so recht, nach meinen Gefühlen ist gebären eine reine Frauensache. (Ich war bei keinem meiner drei Kinder bei der Geburt vor Ort). Während ihrer Abwesenheit im Geschäft wurde sie von meiner jüngsten Schwester vertreten, einer gelernten Detailhandel-Verkäuferin, bis sie von sich aus die Mitarbeit wieder aufnehmen wollte.

Bald krabbelte unser Liebling als Jö-wie-herzig im Ladenlokal herum. Wir pflegten stets einen regen Kontakt mit unseren Verwandten und Bekannten, abwechselnd mehr oder weniger und erhielten immer, wenn nötig, deren unterstützende Hilfe. Damit wir am anstrengenden und umsatzstärksten Samstag unbelastet arbeiten konnten, holte meine Mutter unsere Kinder jeweils am Freitag-Nachmittag zu sich nach Horgen, wo wir sie samstags wieder abholten, verbunden mit einer Lebensmittel-Lieferung zu Gunsten Darlehen.

Nach dem Nothelferkurs und den Lernfahrt-Stunden bestand Trudi im Juni 1978 die Auto-Fahrprüfung im ersten Anlauf.

Damit wir das Geschäft nicht ferienhalber schliessen mussten, übernahmen meine Eltern jeweils für zwei Sommer-Wochen die Stellvertretung. 1978 Camping Riarena in Cugnasco im Tessin. Nachher nur noch Italien am Meer, die Hinfahrt stets nachts ohne Stau am Gotthard und am Zoll in Chiasso, die Rückfahrt dann tagsüber: 1979 Camping in Marina di Massa, danach in Cavallino bei Jesolo/Venedig im Mediterraneo oder Dei Fiori.

Camping
Reise zum Camping Europa in Cavallino bei Jesolo/Venedig

Wir kochten nie selber beim kampieren, lediglich morgens bereitete Trudi einen Filter-Kaffee zu mit einem kleinen Butan-Gas-Brenner und holte frische Brötchen im Camping-Laden während wir alle noch schliefen. Mittags und abends assen wir mit den Kindern im Restaurant.

Als Trudi 1979 mit dem zweiten Kind schwanger war entschlossen wir uns, die bisher als Lager dienenden, mit einem Durchgang dem Ladenlokal angeschlossenen Räume als Wohnung zu nutzen. Nebst einer geräumigen Wohnküche, getrenntem Bad und Toilette waren da noch zwei grosse Zimmer mit Einbau-Schränken. Gekocht wurde mit Erdgas. Für Warmwasser waren in Küche und Bad mit Gas betriebene Durchlauf-Erhitzer. Für alles zusammen zahlten wir eine Monat-Miete von 800 Franken, inklusive Ladenlokal. Wir liessen die Räume neu streichen und Spann-Teppiche verlegen. Für das Wohn-Zimmer kauften wir Occasion eine massive Wohn-Wand mit klappbarem Doppel-Bett für uns. Der zweite Sohn kam einen Monat vor dem Termin, nachdem Trudi am Vortag mithalf, eine schwere Glas-Platte zu verschieben und sie in der Nacht das Frucht-Wasser verlor. Nächsten Tag kam sie zum eingeleiteten gebären in die Klinik Hirslanden. Meine Mutter übernahm diesmal die Stellvertretung.

Auf Anfrage hin beteiligten wir uns an einem Wohnstrasse-Projekt von Nachbarn und stellten für ein Fest vor unserem Geschäft die Infrastruktur über den Getränke-Lieferanten inkl. Tischen und Bänken. Die Eingabe scheiterte schliesslich am Widerstand der Stadt. Ausser Spesen nix gewesen.

Nach der Eröffnung eines Supermarktes durch einen Gross-Verteiler (Coop) nur 200 Meter entfernt blieben uns die Stammkunden zwar erhalten, unter dem Strich hatten wir etwas weniger, aber noch immer genügend Umsatz. Bei jenen allerdings, die ihre volle Einkauf-Tasche abstellten und bloss noch je 50 Gramm Emmentaler- und Greyerzer-Käse zusammen gerieben haben wollten, war ich gnadenlos abweisend.

Wir belieferten mehrere Restaurants und Cafés mit unseren Produkten, darunter das junge Kollektiv Palme an der Bertastrasse. Vom schon länger vorhandenen Gedanken getragen, die Wirte-Fachschule zu absolvieren, fragte ich an und konnte dort jeweils von samstagabends bis Sonntag-Nacht ein bezahltes Schnupper-Praktikum machen mit Küche, Buffet und Bedienung.

Zwecks Erhöhung der Liquidität fuhr ich etwa ein Jahr mit meinem Wagen am Sonntag-Vormittag eine Sammel-Tour bis nach Vaduz im Fürstentum für die Trio-Wette der Landeslotterie.

Eine schon ältere Kundin erzählte beim Einkauf vom Auto-Unfall ihres Lebensgefährten, einem 72-jährigen Taxi-Halter. Dieser hatte beim wegfahren am Hauptbahnhof einen Totalschaden verursacht und sich gleich wieder einen neuen Taxi angeschafft. Nun hätten sie ihm den Ausweis entzogen, was sie auch machen solle mit dem Auto, ob wir einen Käufer wüssten. Als sie mir den Neuwagen mit einem Abschreiber von 50% anbot, kaufte ich den Datsun Bluebird sofort, (ich dachte zum weiter verkaufen). Meine Frau, ihr Ex-Mann war ebenfalls Taxi-Halter, hatte die Idee, ich sollte den Wagen doch behalten und die Taxi-Prüfung machen. Dann könnte ich, wenn im Laden der Umsatz noch weiter zurück gehen würde, mit Taxifahren genug Geld verdienen. Gesagt getan. Ich nahm den neuen Wagen auf Wechsel-Nummer, mietete einen Platz in einer Einstell-Halle in Schlieren (7 km entfernt), bestand die Zusatz-Prüfungen, für gewerbsmässigen Personen-Transport beim Strassen-Verkehrsamt, für den Taxi-Ausweis bei der Gewerbepolizei, unterschrieb einen Anschluss-Vertrag bei der Zentrale Taxiphon und erhielt 1980 eine B-Funk-Betrieb-Bewilligung als selbständiger Taxihalter der Stadt Zürich. 1982 wurden alle B- in A-Bewilligungen umgewandelt, welche die städtischen Standplätze benutzen durften. Je nach Lust und Laune konnte ich jetzt nach dem Abendessen noch ein paar Stunden als Taxi arbeiten. Den Rest-Schlaf holte ich mir über die Mittagspause, manchmal liess mich Trudi morgens auch länger schlafen.

Weil ich als Einzelfirma keine Kinderzulagen der Familien-Ausgleichskasse erhielt, wandelte ich 1982 das Darlehen von Vater um in eine Aktiengesellschaft und wechselte meinen Status von selbständig erwerbend auf angestellt in der eigenen Firma. So konnte ich pro Kind und Monat 100 Franken bei meinen AHV-Zahlungen in Abzug bringen. Die AG gründete ich ohne Hilfe mit Obligationen-Recht und einer Statuten-Vorlage von meinem Schwager aus dessen Arbeitgeber-Firma.

Bei der Wohn-Baugenossenschaft, wo Trudi aufwuchs, hatten wir uns auf der Warteliste angemeldet für ein Reihen-Einfamilien-Haus. Eines Tages stand der Obmann der Siedlung, welcher Trudi kannte, im Laden mit der freudigen Mitteilung, er hätte uns zwar kein Häuschen, aber eine Vier-Zimmer-Wohnung im Parterre mit Garten-Sitzplatz im gleichen Haus wie ihre Mutter. Wir sagten zu und zügelten im Herbst 1982 zurück nach Zürich-Affoltern.

Am nächsten Sylvester holte der Nachbar in der oberen Wohnung, wir kannten uns bisher per Sie bloss vom sehen her, uns und die schon betagte andere Nachbarin aus dem Erdgeschoss zu sich hinauf zum anstossen auf das neue Jahr. Seine Frau schöpfte Basler Mehlsuppe und reichte Würstchen. Er erzählte mir von einem Auto-Unfall mit Ausweis-Entzug für drei Monate und dass er selbständig Transporte ausführen würde. Er hätte von einem grossen Transport-Geschäft vertraglich eine feste Foto-Sammel-Tour nachts. Er würde diesen Auftrag verlieren wenn er nicht fahren kann und ob ich dies für ihn übernehmen könnte. Ich sagte zu, wir einigten uns auf 3000 Franken jeden Monat. Als die Zahlung fällig war, hielt er mich hin mit immer neuen Ausflüchten. Vom Betreibungsamt erfuhr ich auf meine Nachfrage hin von seiner Zahlungs-Unfähigkeit. Was sollte ich tun? Ich entschloss mich zum weiterfahren und hatte nach drei Monaten 9000 Franken zu gut, wofür er mir seinen VW-Transporter samt Chauffeur und Anschluss-Vertrag bei Welti-Furrer übertrug. Für ihn selber war vorgesehen, sich in meinem Lebensmittel-Geschäft einzuarbeiten, was sich aber nach kurzer Zeit als illusorisch herausstellte. Selbst den auf mich eingelösten Lada-Kombi, den er jetzt zu seiner alleinigen Verfügung hatte, musste ich ihm wieder wegnehmen, weil er trotz Ermahnung weiterhin damit nachts von seinen Stamm-Kneipen und Spiel-Automaten mehr oder weniger alkoholisiert nach Hause fuhr. Die für einige ruinösen Geld-Spiel-Automaten im Restaurant wurden anfangs der 90-er im Kanton Zürich verboten, später in der ganzen Schweiz. Der Nachbar arbeitete schliesslich wieder in seinem früheren Beruf als Verkäufer bei einem Gross-Verteiler.

Für die Kodak-Foto-Tour nachts suchte und fand ich einen Fahrer mit eigenem Auto. Dem Transport-Chauffeur kauften und abonnierten wir einen Ortsruf-Empfänger (Piepser) und erteilten die Aufträge beim Rückruf telefonisch. Sein Standort war die Transport-Taxi-Disposition bei Welti-Furrer mit Tischen und Kaffee-Automaten für deren Arbeiter. Private Transporte mussten bar bezahlt und vom Chauffeur bei uns im Laden abgerechnet werden. An einem Samstag-Nachmittag sahen wir vom Geschäft aus unseren Lieferwagen vorne an der Hauptstrasse vorbeifahren, er hatte am Vormittag einen Umzug in ein Altersheim. Als unser Chauffeur nur für anderthalb Stunden Bargeld ablieferte, wir haben ihn ja nachmittags gesehen, fragte ich bei der Kundin zurück und erfuhr, sie hätte ihm das Dreifache bezahlt plus ein grosszügiges Trinkgeld. Nach Ladenschluss meldeten wir uns bei ihm zu Hause, stellten ihn zur Rede, nahmen ihm die Autoschlüssel ab und entliessen ihn fristlos. Auf einen Rest-Lohn wurde verzichtet, den hatte der Chauffeur mit seinen Betrügereien bereits vor-bezogen. Für nächsten Montag hatten wir bereits eine uns zugeteilte Filial-Tour für Csuka-Schuhe, welche nun ich ohne Einarbeitung ausführen musste. So übten wir am Sonntag als Familien-Ausflug das Fahren mit dem drei Meter hohen Lieferwagen.

Trudi war inzwischen im 5. Monat schwanger mit ihrem 3. Kind, einer Tochter. Wir hatten jetzt monatliche Verpflichtungen für das Lebensmittel-Geschäft (800 Franken), den Anschluss Funk-Taxi (400) Franken und den Anschluss Transport-Taxi (1200 Franken). Wir entschlossen uns, das Lebensmittel-Geschäft zu liquidieren, führten einen Ausverkauf durch und schlossen Ende November 1983 endgültig. Die gesamte Einrichtung wurde mit eigenem Lieferwagen entsorgt und die Lokalität besenrein leer zurück gegeben.

Von nun an blieb Trudi zu Hause und konnte sich als Mutter und Hausfrau (endlich) fast uneingeschränkt der Familie mit unseren drei Kindern widmen. Fast deshalb, weil sie wegen der Transport-Disposition dem Festnetz-Telefon verpflichtet blieb, Handys waren damals noch Zukunftsmusik. Und da war auch noch ihre nicht immer pflegeleichte Mutter im 1. Obergeschoss vom gleichen Haus.