Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Selber schuld?

Ein heftiges Gewitter hatte am frühen Abend dieses Spätsommertages die stickige Luft über Zürich gereinigt. Ein paar Stunden später war alles wieder trocken und die nun klare Sicht verschaffte dieser Nacht ihre eigentümliche Note. Die Konturen waren viel deutlicher als sonst und die Distanzen schienen kürzer. Gegen ein Uhr früh steuerte Rolf sein Taxi nach einer Fahrt in eine Vorortgemeinde zurück Richtung Stadtzentrum. Dabei durchquerte er ein Industrie-, Gewerbe- und Kleingärtengebiet am Stadtrand, welches nachts in nahezu ungestörter Ruhe verharrte.

Auf der schnurgeraden Strasse stand, von weitem sichtbar, ein Mensch mitten in der beleuchteten Fahrbahn. Regungslos, gesenkten Hauptes schien die Person den herannahenden Wagen gar nicht zu bemerken. Es war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Rolf hielt an und fragte, ob sie ein Taxi brauche. Sie kam langsam, wie von etwas Unsichtbarem gehindert, zum geöffneten Wagenfenster, kramte in ihren Hosentaschen und sagte, sie möchte an den Sihlquai zurück, aber sie habe kein Geld mehr. Dort am Sihlquai war der Drogenstrich. Rolf dachte, nicht mit mir, anschaffen und kein Geld für den Taxi und sagte nein, sie könne den Weg zu Fuss gehen, das wären etwa zwanzig Minuten, oder sonst solle sie Autostopp machen, es würde sicher ab und zu ein Fahrzeug vorbeifahren. Wortlos wendete sie sich ab und taumelte zum Gehsteig, wo sie sich abstützend an ein parkiertes Auto lehnte.

Ihr abwesender Gesichtsausdruck, eine den Tränen nahe Stimme, ihr seltsam verzögerter Gang, die zerzausten Haare, die unordentliche Bekleidung, keine Tasche, der Zeitpunkt mitten im abgelegenen Quartier, sein Gefühl hinderte Rolf daran, einfach weiter zu fahren, obwohl er jetzt in der Innenstadt gute Umsätze erzielen könnte. Er parkierte und stieg aus.
"Ist denn alles in Ordnung mit dir?"
Sie schluchzte, nur sehr kurz, vielleicht drei Sekunden.
"Ich bin überfallen worden von einem Freier. Er hat mir plötzlich etwas aufs Gesicht gedrückt. Dann weiss ich von nichts mehr."
"Wann war denn das?"
"Wie spät ist jetzt?"
"Zehn vor eins."
"Schon? Das muss kurz nach elf Uhr abends gewesen sein."
"Weisst du noch die Autonummer?"
"Ja, ich habe sie aufgeschrieben, der Zettel ist in der Tasche. Oh nein, meine Tasche hat er auch noch im Auto. Es ist ein weisser Wagen gewesen, Marke Audi, mit einem Kontrollschild aus dem Kanton Schwyz."
"Komm steig ein, ich bringe dich doch auch ohne Geld zurück."
"Ich bin aber ganz nass da unten."
Sie hatte Hemmungen, sich auf den sauberen hellgrauen Autositz zu setzen. Seltsam, es war wieder trocken draussen und Rolf sah auch keine Verschmutzung an ihr, abgesehen von den mit getrockneter Erde verschmutzten Knien ihrer schwarzen Satinhose. Die Knöpfe der weiten hellen Bluse waren bis zum Bauch hinunter geöffnet. Rolf starrte automatisch auf ihren kleinen weissen Hängebusen, worauf sie ihre Bekleidung zurecht rückte. Er holte eine Decke aus dem Kofferraum, legte sie auf den Beifahrersitz und hiess sie einsteigen. Unterwegs weinte sie manchmal kurz. Zeitweise schüttelte es sie aber auch richtig durch. Sie stützte sich mit beiden Händen auf, als ob ihr das Sitzen Schmerzen bereiten würde. Spontan entschied sich Rolf, die Frau zur Stadtpolizei auf die Kreis-Wache am Sihlquai zu bringen. Er bereitete sie darauf vor, indem er ihr sagte, wenn sie überfallen worden sei, müsse sie bei der Polizei eine Anzeige erstatten, sonst würde der Täter nie erwischt und mache das wieder. Sie wehrte ab, sie könne nicht zur Polizei, weil sie gar nicht in Zürich sein dürfte, sie möchte nur an den Sihlquai und dort weitermachen.

Gegen ihren Willen fuhr Rolf zur Stadtpolizei. Die Frau im Wagen lassend, meldete er sich auf dem Posten. Nach einer kurzen Schilderung meinte ein wachhabender Polizist, dies sei keine Angelegenheit für sie, er solle die Frau zur Kriminalpolizei an die Zeughausstrasse im Stadtzentrum bringen. Rolf verschlug es zuerst fast die Sprache. Dann bestand er aggressiv auf Hilfe, er hätte die Frau jetzt kostenlos bis hierher gefahren, das sei doch nicht seine Sache und er wolle nun weiter seiner Arbeit nachgehen. Er würde die Frau einfach vor der Polizeiwache absetzen, obschon sie vermutlich verletzt wäre. Auf seine Bitte hin, die Frau wenigstens anzuschauen, kamen dann doch endlich zwei Polizeibeamte nach draussen zum Taxi. Die Frau war im Auto geblieben und musste nun aussteigen. Als die Polizisten den Blutfleck auf der Wolldecke sahen, dort, wo sie gesessen hatte, beschlossen sie, die Frau zu behalten und die Sanität kommen zu lassen.

Am nächsten Morgen wurde Rolf, der normalerweise schlief bis er von selber wach wurde, von seiner Frau Trudi geweckt.
"Du Schatz, die Kriminalpolizei ist am Telefon."
Rolf blickte in ihre weiten, etwas Schlimmes ahnenden Augen und lachte.
"Hoi Schätzli, es ist nichts passiert, das ist wegen gestern, ich erzähle das nachher."
Ein Detektiv der Kriminalpolizei befragte ihn kurz telefonisch zur Sache. Die junge Frau sei noch vor dem Eintreffen der Ambulanz auf dem Polizeiposten bewusstlos geworden. Nach der Auskunft des Notarztes wäre sie in spätestens dreissig Minuten an ihren inneren Blutungen verstorben. Sie hatte schwerste Unterleibsverletzungen im Genitalbereich erlitten, die eine mehrstündige Notoperation erforderten, bei der auch ein künstlicher Darmausgang hätte angelegt werden müssen. Sie befinde sich zurzeit wegen dem nötigen Drogenentzug in einem künstlichen Koma. Am Nachmittag musste sich Rolf dann auch noch die Zeit nehmen zur schriftlich fixierten Befragung und Spurensicherung im Wagen.

Von der Frau, welcher allein der Zufall und sein Gefühl das Leben rettete, hat Rolf nie etwas gehört. Vielleicht wusste sie nach dem Tiefschlaf gar nicht mehr, was passiert war. Er aber weiss bis heute auch nicht, ob sie nicht lieber gestorben wäre, als verstümmelt noch weiter zu leben. Denn ohne seine Handlung als Taxifahrer gegen ihren Willen wäre sie vermutlich gestorben. Trudi meinte, das wäre ihr recht geschehen. Sie hat in dieser Beziehung eine knallharte Meinung. Das sei abscheulich, wie diese Frauen die Männer ausnehmen und dadurch Beziehungen zerstören. Die seien alle selber schuld. Er zweifelt.

Selber schuld, am Drogenstrich zu sein?