Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Kokain, die endlose Gier

Wie schon oft, nachts um halb drei, wartete Rolf mit seinem Taxi an der Bushaltestelle Militär-Langstrasse vor dem Hotel Gregory auf Kundschaft. Die Haltestelle wurde nach Betriebs-Schluss der öffentlichen Verkehrsmittel inoffiziell als Taxistand benutzt. Von der oberen Langstrasse her eilte eine jüngere Frau über den Fussgänger-Streifen und begann, noch im Gehen, bei den um die Ecke biegenden Fahrzeugen Autostopp zu machen. Erfolglos. Sie führte Selbstgespräche, zwang manchmal vorbeifahrende Autos fast zum Anhalten, indem sie einen Schritt in deren Fahrbahn trat, rückwärtsgehend passierte sie die drei da stehenden Taxis, kehrte weiter vorne wieder um und lief aufgeregt auf dem Gehsteig, sprach Passanten an.

Die Frau trug kräftige Wanderschuhe, schwarze Trainerhose, am Unterschenkel graue, grob gestrickte Stülpen, das baumwollene Männerhemd über die Hosen getragen wie eine weite Bluse, von einem schwarzen Gurttäschchen geschnürt, darüber eine warme Stoffjacke mit Kapuze und dazu noch eine weite Regenjacke aus Nylon. Es war Oktober, nass und schon recht kühl. Sie hatte nackenlange braune Haare, leicht gewellt, im vordersten Drittel rötlich aufgehellt, ursprünglich von einem Friseur gestylt, jetzt aber eher in wilder Zigeunerart. Um den Hals trug sie locker einen Schal, mehrfach gewunden.

Rolf schaute ihr interessiert zu. Er wartete gerne an diesem belebten Platz auf Kundschaft. Aus dem Fahrzeug heraus hatte er hier einen Hauch von realer Fernsehwelt, rundum, hinter gläsernen Autoscheiben sitzend, samt Rückspiegel, entging fast keine Bewegung seinen aufmerksamen Blicken. Er bemerkte auch ihr auffällig hübsches Profil mit extrem sinnlicher Mundpartie. Als sie wieder an seinem Taxi vorbei kam, liess er die elektrische Beifahrerscheibe hinunter und sprach sie an.
"Wo musst du denn hin?"
Sie kam zu ihm ans Fenster, duckte sich und schaute ihn an.
"Zum Goldbrunnenplatz, aber ich habe kein Geld für einen Taxi."
"Aber ein anderes Mal, kannst du dann bezahlen?"
"Jäh, würdest du mir denn vertrauen?"
"Sicher, steig ein."
Sofort entriegelte sie durchs offene Fenster selber die verschlossene Türe und setzte sich auf den Beifahrersitz.
"Das ist aber flott von dir."
"Also zum Goldbrunnen?"
"Ja, an die Schaufelbergstrasse."
Das war zwar nicht dasselbe, nämlich fast doppelt so weit, doch was soll's. Er startete seinen Wagen und fuhr los. Die beiden Fahrer in den Taxis vor ihm drehten unwirsch ihre Köpfe. Sie wären vor ihm an der Reihe gewesen und könnten annehmen, der andere hätte ihnen einen rentablen Kunden weggeladen. Es war wieder so eine trostlose Sonntagnacht ohne zahlende Fahrgäste. Unterwegs versuchte Rolf ein Gespräch.
"Ich habe dich kürzlich gesehen in den Seitenstrassen um die Lugano-Bar."
"Ja? Gut möglich, dort habe ich schon rausgelassen."
"Rausgelassen? Verkaufst du Drogen?"
"Ich mischle eigentlich nur, wenn ich vier Portionen vermittelt habe, kriege ich eine für den Eigenbedarf. Dich habe ich aber noch nie gesehen."
"Mein Taxi ist einer von vielen. Wie heisst du?"
"Trix."
"Freut mich, ich bin der Rolf."
Rolf zündete sich eine Zigarette an.
"Willst du auch eine?"
"Gerne."
Nach ein paar Zügen bekam sie einen wüsten Hustenanfall. Sie öffnete das Fenster und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
"Ich sollte nicht rauchen, ich habe Asthma und im Moment besteht dazu ein Verdacht auf Lungenentzündung."
"Bist du bei einem Arzt gewesen, ein Schirmbild machen lassen?"
"Ja, ich war im USZ, im Universitätspital Zürich, eine Tomografie haben sie gemacht, ich soll wieder vorbei kommen."
Schichtröntgen wird wohl kaum bei Verdacht auf Lungenentzündung veranlasst, da geht es vermutlich um etwas noch schlimmeres.
"Und, wie lief dein Geschäft?"
"Jetzt habe ich nur etwas für mich selber besorgt."
"Was nimmst du denn?"
"Kokain."
"Nur Kokain, kein Heroin?"
"Nein, nur Kokain, ich habe Methadon."
"Das Methadon ist meistens die Endstation. Vielleicht sollte ich einmal, damit ich den Durchblick kriege, die ganze Palette einer Drogenlaufbahn rückwärts durchgehen, aber ohne von irgendetwas abhängig zu werden und am Schluss rauche ich nochmals einen Joint, wie vor dreissig Jahren."
"Du bist ein seltsamer Vogel, das muss ich schon sagen, aber in einem irrst du dich, für Drogensüchtige ist nicht das Methadon die Endstation, sondern der Tod."
"Gut, so gesehen ist er das für uns alle."
Trix bedankte sich noch einmal dafür, wie er sie ohne Geld, auf Kredit, mit dem Taxi heimfahre. Sie gebe ihm das Fahrgeld ein anderes Mal, es wären etwa fünfzehn Franken. Rolf kannte solche Versprechungen zur Genüge.
"Nur keinen Stress, weisst du, ich kann das nur darum, weil nichts läuft, sonst hätte ich dazu gar keine Zeit."
"Trotzdem, andere würden das nicht machen, ich kenne viele Taxifahrer, die haben nur Geld im Kopf, und zwar sofort."
"Ich weiss eben, wie das läuft bei euch, ihr habt oft kein Geld, aber wenn ihr ausnahmsweise einmal zu viel davon habt, dann reut es euch auch nicht. Hab ich dir schon gesagt, dass ich Rolf heisse?"
"Ja, das hast du."
Sie schaute ihn erstaunt und belustigt an, dann reichte sie ihm ihre Hand.
"Also noch einmal richtig, ich bin die Beatrice, aber du kannst mir Trix sagen."
"Ich bin der Rolf."
"Wau, du hast aber einen Händedruck."
"Entschuldigung, habe ich zu stark zugepackt?"
"Nein, nein, schon gut."
Rolf wusste, bei feingliedrigen Menschen könnte er ungewollt diesen ersten Eindruck erwecken. Unvergessen bleibt ihm eine für ihn peinliche Erinnerung, wie er als zwölfjähriger Bub einmal beim Händereichen von einem Onkel gezwungen wurde, diesem die Hand zu geben wie ein richtiger Mann, mit exakt so viel spontanem Gegendruck wie man selber spürt. Seither hatte Rolf einen kräftigen Händedruck.
"Bist du verheiratet?"
"Ja, ich bin 45 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder, hier hast du meine Visitenkarte, willst du sonst noch etwas von mir wissen?"
"So gut, das glaube ich nicht."
Sie fand offenbar Gefallen an seiner Absicht, sich als offenes Buch darzustellen. Inzwischen waren sie in der engen Einbahnstrasse vor ihrem Wohnort angekommen und hielten auf der Fahrbahn zwischen den beiden Reihen geparkter Autos. Sie zeigte keinerlei Anstalten, auszusteigen, fragte weiter.
"Bist du schon lange verheiratet?"
"Seit zweiundzwanzig Jahren."
"Und, liebst du deine Frau immer noch?"
"Sicher, manchmal kommt es mir so vor, als hätten wir uns erst gestern kennengelernt, so schnell verging die Zeit."
"Wirklich? Du liebst sie immer noch richtig, wie damals?"
"Genau gleich natürlich nicht, wir sind ja beide auch älter geworden, es ist aber nur anders, weisst du, im Laufe der Jahre wandelt sich die erste grosse Liebe in ein Gern haben, in ein gegenseitig Füreinander da sein und Verantwortung übernehmen."
"Das ist schön, wie du das sagst, und du hast nie andere Frauen gewollt, hast deine Frau immer geliebt?"
"Ja, aber weisst du, ich bin doch auch nur ein Mann, besonders seit ein paar Jahren meine ich schon eine Veränderung an mir zu bemerken."
"Aha, die bekannte Abänderung?"
"Nicht nur, es tauchen plötzlich neue Dimensionen auf, die früher, etwa um dreissig, überhaupt kein Thema waren, mein Gehör und meine Sehschärfe haben sich zum Beispiel verändert, Männer über vierzig haben wahrscheinlich ganz allgemein auch einen anderen Blick für jüngere Frauen."
"Das finde ich jetzt aber interessant, was du da sagst."
"Wie alt bist du denn?"
"Was meinst du, sage eine Zahl."
Rolf musterte sie lange. Was sollte er sagen?
"Vielleicht siebenundzwanzig?"
"Danke, ich werde dreiunddreissig, jetzt dann Ende November."
"Du siehst viel jünger aus."
"Danke, das tut mir gut, das zu hören."
"Und es stimmt auch, wenn ich es sage, ich mache keine Komplimente."
Sie schaute Rolfs Visitenkarte an und verlangte ein Schreibzeug.
"Also, ich schreib mir den Fahrpreis auf, damit ich weiss, worum es geht, ich werde dich anrufen, wenn ich das Geld habe."
"Nein, schreib das nicht zu meiner Nummer, sonst wirst du sie wegwerfen, mir ist es lieber, wenn du mich einmal anrufst."
"Wenn du meinst."
Sie versuchte zu gähnen.
"Jetzt könntest du mich eigentlich noch nach oben tragen, ich bin total schwach."
Rolf lachte.
"Das würde ich mir zutrauen, für ein gutes Trinkgeld mache ich fast alles, aber du kannst mir ja gar kein Trinkgeld geben. Hättest du dann wenigstens etwas zu trinken, und überhaupt, lebst du allein?"
"Ich bin allein, von meinem Ex getrennt, aber ich habe zwei Hunde."
"Was sind das für Hunde, weisst du, ich habe Angst vor grossen Hunden."
"Nein, das glaube ich gerade dir."
"Doch, es stimmt, ich habe den Umgang mit diesen Tieren nie gelernt, die so gross sind und spitzige Zähne haben, wie Schäfer, Doggen oder Bernhardiner."
"Meine sind ganz klein, zurzeit sind sie sowieso fremd platziert, bei einer Freundin. Wenn du willst, kannst du schon mit hinauf kommen, aber nicht allzu lange, ich will unbedingt noch eine Arbeit fertig machen, die ich morgen abliefern muss."
"Was ist das für eine Arbeit?"
"Für eine Werbeagentur kann ich frei arbeiten, auch zu Hause, und nur wegen dem Termin habe ich mir etwas besorgt vorhin, sonst werde ich nicht damit fertig, ich muss aber unbedingt abliefern."
"Gut, ich komme mit hinauf, nur kurz."
Ein paar Meter weiter war vorne eine Möglichkeit zum Parken auf dem Gehsteig, eigentlich verboten, aber während der Nacht gängige Praxis. Mit dem Lift liessen sich die beiden zum zweiten Stockwerk hochtragen. An der Aussenseite der Wohnungstüre begrüsst ein Farbbild eines Tigerkopfes die Hausbewohner und eventuelle Besucher. Trix wohnt in einer Einzimmerwohnung mit separater Küche. Sie blieb im kurzen Eingangsflur stehen und zog nicht nur ihre Jacken, sondern bis auf die Unterwäsche auch ihre übrige Bekleidung aus. Darunter trug sie ein schwarzes Ballettkleid an einem Stück, mit Reissverschluss, samt Fussbekleidung, und zog nun lediglich noch feine Geräteschuhe über. Sie forderte Rolf auf, mit der Hand an ihrer Hüfte zu fühlen, wie dünn sie geworden sei, sie habe in den letzten fünf Tagen acht Kilogramm abgenommen. Rolf meinte, dazu müsste er beide Hände nehmen, um sich einen Eindruck verschaffen zu können. Er tastete den Übergang von Bauch zu Rippen und erschrak, wie abgemagert sie war. Als Rolf den Teppich im Gang zum Zimmer hin verlassen wollte, zischte Trix herrisch knapp und unpersönlich, so als ob ihre Mutter spräche.
"Schuhe ausziehen!"
Rolf befolgte diese Aufforderung gehorsam und stand nun im Kittel, aber nur in den Socken, im Zimmer. Er fühlte sich ohne Schuhwerk ziemlich peinlich und unsicher.
"Du hast dich schön eingerichtet, wohnst du schon lange hier?"
"Seit fünf Jahren."
Das Zimmer war sauber aufgeräumt, gemütlich und heimelig. Es wimmelte überall von unzähligen Kleinigkeiten. Das Doppelbett war ordentlich gemacht, nur der Platz war aufgedeckt, den Trix jeweils zum hinlegen benötigte. Die beiden Sessel beim kleinen runden Tischchen belegten sieben grosse Teddybären. Die Möbel waren alle aus nördlichem Naturkiefer, wie sie durch die global verkaufenden Handelshäuser angeboten werden. Mehrere Pflanzen strahlten ihr wohltuendes Grün in den Raum. An den Wänden hingen grosse Farbfotografien von Tierköpfen, Tiger und Hunde, aber keine Hauskatzen. Auch auf dem Büchergestell, das gleichzeitig als Wohnwand fungierte, waren geschnitzte und geformte Tierfiguren aufgestellt. Einzig über der Kopfseite des Bettes war kein Tierkopf, sondern ein übergrosser, aufgefalteter Fächer als Wandschmuck platziert. Die gesamte Kombination der Wohnungseinrichtung zeigte in Form und Farbe einen treffsicheren Sinn für kreative Gestaltung. Da in der Wohnwand eine kleine Nachbildung eines sitzenden Buddhas sichtbar war, fragte Rolf, ob sie sich für Buddhismus interessiere.
"Nicht nur, ich bin sogar richtig Buddhistin, dieser Buddha ist mein Tempel, den darf niemand berühren, er würde dadurch entweiht."
"Welche Richtung bevorzugst du denn? Zen oder so?"
"Nein, Dalai-Lama."
"Ist das nicht Tibet, wie kommst du denn darauf?"
"Ich war dort, nicht in Tibet, da kommst du gar nicht rein, aber in Indien, ich habe den Dalai-Lama bei einer halbstündigen Audienz persönlich kennen gelernt."
"Nein, wirklich? Sag mal, du bist schon weiter herumgekommen als ich."
"Ich glaube an die Reinkarnation, an die Wiedergeburt. Was denkst du darüber, kannst du dir vorstellen, schon einmal gelebt zu haben und nach deinem Tod wieder geboren zu werden?"
"Nein, ich denke zwar ähnlich, aber im Grundsatz doch wieder völlig anders, weil ich keine auf mich selber bezogene Wiedergeburt erkennen kann, wohl aber eine Teilnahme der Seele in einer gedanklichen Dimension. Im keltischen Druidentum, der ursprünglichen europäischen Kultur, wurde gelehrt, der Tod sei wie die Mitte eines langen Lebens, nach dem persönlichen Tod herrsche weiterhin der gleiche Gedanke, aber sowohl in einem anderen Körper als auch in einer anderen Welt, aber in dieser Welt. Das ist noch heute der springende Punkt, die andere Welt in dieser Welt."
"Dass auch du dir darüber Gedanken machst, finde ich schön und wichtig."
Sie hantierte in der Küche, füllte eine Schale mit Wasser und stellte sie auf das runde Tischchen neben dem Bett.
"Setz dich doch, du musst dir halt selber Platz schaffen."
Rolf verlagerte die farbigen Plüschtiere auf einen Sessel, zog seinen Kittel aus und legte diesen ebenfalls auf den Haufen. Da nirgends ein Aschenbecher zu sehen war und Trix wegen ihrem Asthma nicht rauchen sollte, zündete er keine Zigarette an, sondern fragte sie, ob sie im Zimmer nicht rauchen würde.
"Nein, da drin wird nicht geraucht."
Trix war in der Küche vor dem geöffneten Kühlschrank.
"Magst du Fruchtsäfte, ich habe einen Birnensaft da?"
Sie stellte ein Tetra-Pak auf die Ablage der Küchenkombination und machte weiter mit ihren seltsamen Vorbereitungen, offenbar für ihre Spritze. Für jeden einzelnen Gegenstand ging sie extra, einen grossen Esslöffel aus der Küche, eine Rolle Papier aus dem Klo, eine Schere aus der Kommode. Sie setzte sich auf die Bettkante ans Tischchen und öffnete eine Flash-Box aus einem der städtischen Spritzenautomaten, wo die Drogenabhängigen für drei Franken und fünfzig Rappen zwei neue Bestecke beziehen konnten.
"Du kannst dir selber ein Glas holen und etwas zu Trinken einschenken."
Die Küche ist blank sauber, wie nie gebraucht.
"Wo sind die Gläser?"
"Du musst halt suchen, aber mach keine Unordnung."
Rolf öffnete zuerst die Küchenschranktüre über dem Abwaschgitter und wurde gleich fündig. Er nahm zwei Gläser mit.
"Willst du auch etwas trinken?"
"Gerne."

Trix hatte mit einer Gratiszeitung, dem Tagblatt der Stadt Zürich, den Boden zwischen ihrem Bett, wo sie auf der Kante sass, und dem Tischchen abgedeckt.
"Manchmal finde ich beim Spritzen die Vene nicht und so habe ich keine Sauerei am Boden, wenn es blutet."
"Hast du denn bereits Verhärtungen am Arm vom Stechen?"
"Nein, aber ich habe immer mehr Mühe mit treffen, da, schau her, ich habe an beiden Unterarmen Reissverschlüsse."
Sie streifte die Ärmel zurück und zeigte Rolf ihre Unterarme. An beiden Innenseiten waren entlang der Venen Einstiche zu sehen, Fixerstrassen, in regelmässigem Abstand von einigen Millimetern.
"Soll ich dir spritzen? Ich hab das zwar noch nie gemacht, aber ich habe sicher eine ruhige Hand."
"Spinnst du eigentlich, ich lass mir doch nicht einfach von jemandem eine Spritze machen. Würdest du das wirklich tun?"
"Warum nicht, war ja nur ein Vorschlag in der Not."
Plötzlich Hektik, sie suchte ihre beiden Minigrips, kleine Plastik-Säckchen, in denen die Händler das sehr heikle, Feuchtigkeit empfindliche Kokain verkauften.
"Nein, wo habe ich die jetzt verlegt? Komm, hilf mir doch beim suchen."
"Die hast du doch vorhin noch in der Hand gehabt."
In der Küche fand sie, was sie suchte. Rolf wollte die Minigrips von nahe ansehen, sie gab sie aber nicht aus der Hand, streckte sie ihm nur hin.
"Dieses weisse Pulver ist also Kokain. Wie viel ist denn da drin?"
"Nicht viel, in jedem vielleicht um 0,8 Gramm."
"Und was hat das gekostet?"
"Je hundert Franken."
Mit der Fernbedienung stellte sie den Fernseher ein und reichte sie Rolf.
"Halte diese bitte, sie irritiert mich, wenn sie auf dem Tisch liegt. Wenn ich spritze, musst du den Ton abschalten, damit ich ein gutes Flash habe, brauche ich absolute Ruhe, ich sage dir dann, wenn es soweit ist."
"Was ist, wenn du wegkippst, was soll ich dann tun?"
"Dann gehst du, lässt mich einfach liegen, aber beatmen könntest du mich schon noch, bevor du gehst, falls es nötig wäre. Das würdest du doch tun, oder?"
Trix hatte sich eine dunkle Hornbrille aufgesetzt und sah Rolf an wie im Film eine Oberlehrerin in einem Internat ihren Schüler. Im Esslöffel löste sie den Inhalt eines Minigrips in Wasser auf und stampfte mit dem Filter aus der Flashbox darin herum. Sie verlangte von Rolf zwei Zigaretten und schnitt von einer ein Stück vom Filter ab. Mit der Spritze ohne Nadel zog sie die Flüssigkeit durch den Filter auf, bis der Löffel restlos sauber war.
"Diese Filter sind immer noch die besten."
Rolf scherzte, "den kannst du mir jetzt ja als Kaugummi geben."
"Sicher nicht, davon hast du nichts, das macht dir bloss die Zähne kaputt."
"War auch nicht ernst gemeint."
"Das habe ich schon gemerkt, du hast einen auffällig sarkastischen Humor."
Zuletzt steckte sie die etwa zwei Zentimeter kurze Nadel auf und band sich mit einem Stoffbändel den rechten Oberarm ab.
"Jetzt musst du wegsehen, ich werde sonst nervös und treffe erst recht nicht."
"Sowieso, mir wird schon beim Anblick der Nadel schwindlig."
"Du, das erging mir früher auch so, bevor ich selber angefangen habe."
Rolf drehte sich zum Fernseher um.
"Du schaust ganz bestimmt nicht?"
"Versprochen, du kannst mir vertrauen, und jetzt sage ich auch nichts mehr, bis du wieder mit mir sprichst."

Ohne Ton mitten in einen Spielfilm hinein zu schauen war auch mal etwas Neues. Rolf zählte darum die deutlich hörbaren Blutstropfen, die schon bald auf dem Zeitungspapier am Boden ankamen. Zuerst ab und zu einer, dann ein kurzes Staccato, manchmal durch ein Rinnsal unterbrochen, begleitet von einem fast wie wohltuend klingenden Stöhnen von Trix. Rolf verkrampfte sich ein wenig, weil er sich vorstellte, was er nicht mit ansehen durfte, wie sie mit der Nadel unter der Haut, die durch das Kokain örtlich betäubt wird, langsam stechend eine Vene suchte. Zwischendurch sagte sie einmal, ruhig und konzentriert, sie treffe nicht. Dann ging das blutige Hörspiel weiter, bis sie sagte, sie glaube, jetzt habe es geklappt, ob er ihr im Badezimmer den grünen Lappen holen würde. Als Rolf damit zurückkam, der Lappen hing noch recht feucht, wie kürzlich gebraucht, über dem Badewannenrand, sah er den malträtierten Arm. An der Aussenseite des vorderen Unterarmes waren als Tupfer schneeweisse Klopapierfetzen, blutrot angeklebt. Etwas weiter den Arm rauf hing auf der Innenseite die Spritze, schon rot gefüllt mit Blut, das sie während dem Suchen aufgesogen hatte. Trix brauchte beide Hände zum Putzen und liess dazu die Spritze einfach in der Vene baumeln. Sie hatte eine taugliche Ader gefunden und reinigte sich vor dem entscheidenden Flash? Erst als ihr der Arm sauber genug schien, löste sie die Abschnürung und drückte die Spritze langsam und gleichmässig durch. Sie verharrte leise ausatmend mit geschlossenen Augen. Dann zog sie die Nadel halb zurück, füllte sie durch Zurückziehen des Kolbens erneut mit Blut und drückte auch dieses wieder langsam in die Vene, darauf bewegte sie die Nadel in der Vene, saugte die Pumpe nochmals voll Blut und versenkte dann die Kanüle bis zum Anschlag im Arm. Die ganze Handlung ging in einer endlosen Zeitlupe vor sich. Dabei bewegte sich ihr Unterkiefer quer hin und her, als ob sie mit den Zähnen knirschen würde. Jetzt pumpte sie den Inhalt der Spritze etappenweise hinein und wieder zurück, wobei sie jedes Mal etwas mehr spritzte als ansaugte, bis der Kolben leer war. Nun zog sie die Nadel raus und legte die Spritze auf den Tisch, nahm ihre Brille ab und sank mit geschlossenen Augen und durchgestreckten Beinen rücklings aufs Bett. Nach vielleicht etwa zehn Sekunden setzte sie sich bereits wieder auf und begann, ihre Utensilien wegzuräumen. Das Kokain wirke besser, wenn sie sich bewegen würde. Rolf musste ihr die Nadel von der Spritze abnehmen, weil sie diese zu stark aufgesteckt hatte und nicht mehr wegbrachte. Anstatt zuerst die Schutzhülle überzuziehen, wie sie es sicher gelernt hatte, warnte sie ihn lediglich, er solle aber aufpassen mit der spitzigen Nadel, das sei gefährlich.
"Wozu pumpst du noch das Blut mehrmals hin und her?"
"So hast du jedes Mal erneut ein kleines Flash, das erste explodiert richtig im Kopf und dann kann ich nicht mehr aufhören, ich liebe diese Ekstase und will sie wieder, wieder und immer wieder."

Rolf war halb schlecht vom Zusehen. Er stand nun auf und zog seinen Kittel wieder an, auch, weil sie ja gesagt hatte, er könne nur kurz mit hinaufkommen. Trix schaute ihm erstaunt zu und fragte, ob er schon gehen wolle.
"Ich sollte noch etwas Umsatz machen, sonst ist meine Frau nicht mit mir zufrieden, wenn sie am Morgen meine Einnahmen ausrechnet."
"Schade, ich hätte jetzt gerne noch ein wenig mit dir geplaudert."
"Dann bleibe ich, soviel Zeit habe ich schon, aber du willst doch noch arbeiten."
"Das schaffe ich jetzt locker."
Dabei wölbte sie den halbrunden Deckel eines kleinen Pultes zu, als ob es sich dabei um ihren Arbeitsplatz handeln würde. Rolf war irritiert, weil dort keinerlei Hinweise auf ein angefangenes Werk hindeuteten, vielmehr liegen bloss einige frisch gefaltete Wäschestücke auf der nun nicht mehr einsehbaren Arbeitsfläche. Ob sich wohl Trix etwas vormachte, das es gar nicht gab? Wohl kaum, eher machte sie Rolf etwas vor, war dabei, ihm ihre Masche, ihr perfektes Schauspiel, vorzutragen. Diesmal nahm sie ihm den Kittel ab und hängte ihn mit einem Kleiderbügel gegenüber der überfüllten Garderobe an den Schlüssel eines Wandschrankes. Sie nahmen wieder Platz, er im Sessel und sie mit angezogenen Beinen auf dem Bett, die Arme um die Knie geschlungen.
"Was spürst du jetzt?", fragte Rolf neugierig.
"Es geht mir einfach gut."
"Seit wann nimmst du denn Drogen?"
"Erst wieder seit kurzem, aber angefangen hat das schon vor bald zwanzig Jahren, als ich noch zur Schule ging. Nachdem wir von Oberengstringen nach Schlieren umgezogen sind, kam ich mit den falschen Kollegen zusammen. Ich bin mir fast sicher, dass ich sonst nicht da rein geraten wäre. Ich kam damals übrigens einmal in der Zeitung als jüngste Drogenabhängige, die von der Polizei aufgegriffen wurde."
"War das nicht die Manuela auf dem Platzspitz?"
"Die kam erst später, ich war schon vor ihr die erste Minderjährige, nachher wurden sie dann sowieso immer jünger."
"Warst du auch auf dem Drogenstrich?"
"Nein, nur einmal, es ekelte mich mit fremden Männern, ich habe mir mein Geld lieber mit Drogenhandel beschafft."
"Hast du den Zeitungsartikel noch."
"Nein, aber meine Mutter hat ihn für mich aufbewahrt."
"Magst du deine Eltern, hast du noch Kontakt zu ihnen?"
"Mein Vater, das war ein ganz lieber Mann, den ich gut mochte. Leider ist er viel zu früh gestorben, als ich mit neunzehn in einer Entzugs-Therapie war. Meine Mutter hatte es nicht einfach, sie war nur die Freundin meines Vaters, der war schon verheiratet. Sie war oft unzufrieden, machte mir stets alles kaputt, vielleicht nicht einmal mit Absicht, sie hat mich oft verprügelt, mit einem Teppichklopfer oder mit dem Rohr des Staubsaugers. Ich durfte nie raus oder eine Kollegin nach Hause nehmen, musste immer putzen und aufräumen."
"Wie kamst du zu Drogen?"
"Mein erster richtiger Freund, Remo, war schon fast einundzwanzig Jahre alt und ohne mein Wissen abhängig. Erst als ich die Einstiche sah und ihn zur Rede stellte, hat er es zugegeben. Später, als meine Mutter von jemandem davon erfahren hatte, gab es dann ein riesiges Theater, ich sollte gezwungen werden, meinen Freund einfach zu vergessen. Da habe ich in der Verzweiflung, als ich trotz Verbot bei ihm war, seine Fixerutensilien gestohlen und dann, ganz allein bei mir zu Hause, eine erste Spritze gemacht."
"Bist du verrückt, das hätte dich umbringen können."
"Ich war auch lange bewusstlos, als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken im Bett und die Nadel steckte noch in der Armbeuge. Die Trennung von meinem Freund wurde dann dennoch erzwungen und ich wurde trotzdem drogenabhängig."
"Wahnsinn, du bist aus Stolz und zum Trotz für deine Jugendliebe an die Nadel?"
"Es hat mir niemand helfen können. Mein lieber Vater wollte zwar, aber er war ein einfacher Arbeiter, der das alles vermutlich gar nicht so richtig begreifen konnte, was da vor sich ging."
"Das hätte er damals und noch heute auch als Studierter nicht begriffen."
Zwischendurch schwiegen manchmal beide und blickten sich stumm in die Augen, die wie von selbst aneinander hängen zu bleiben schienen.
"Und du hast auch schon rausgelassen, hast mit den Drogen gehandelt?"
"Früher war ich sogar einmal eine wichtige Figur in der Zürcher Szene, ich war eine richtige Grosshändlerin."
"Damals auf dem Platzspitz?"
"Da war ich nur noch ganz am Anfang dabei, nein, ich war schon im Autonomen Jugendzentrum, dem AJZ, ich habe dort gelebt, wir hatten ein Zimmer, bis sie alles abgebrochen und kaputt gemacht haben, ich war auch bei den Krawallen dabei."

Im Mai 1980 erschreckten die Opernhaus-Krawallnächte die Zürcher Bevölkerung. Vor dem Hintergrund einer politischen Abstimmungsvorlage, dem Umbau des Opernhauses für 60 Mio. Franken, und einer seit den Jugendunruhen von 1968 pendenten Forderung aus der Zürcher Bewegung nach einem Jugendhaus eskalierte eine gewaltsame Auseinandersetzung. Ende Juni erfüllte der Stadtrat von Zürich ein Ultimatum der Bewegung und übergab eine leer stehende Fabrikhalle samt Nebengebäude unter die Trägerschaft der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich. Das Autonome Jugendzentrum (AJZ) hinter dem Hauptbahnhof zwischen Sihlquai und Limmatstrasse war gegründet. In der ehemaligen Fabrikliegenschaft entwickelte sich in der Folge aber auch eine massive Drogenszene. Im AJZ befand sich der erste illegale Fixerraum der Stadt. Vor allem wegen diesem rechtlosen Raum und den unhaltbaren hygienischen Verhältnissen wurde das AJZ im Frühjahr 1982 endgültig mit polizeilicher Gewalt geräumt und gleich anschliessend abgebrochen. Die freie Ebene wurde umgeplant und in einen Carparkplatz verwandelt.

Auch Rolf war sporadisch im AJZ, er besuchte vor allem die politischen Vollversammlungen der Autonomen, nahm als Beobachter an Demonstrationsumzügen teil und sass, bald dreissigjährig und Familienvater, mal wieder auf Tramgeleisen beim Bellevue, allerdings mit einem unguten Gefühl, fast wie mit einem schlechten Gewissen. Für die mehrheitlich über zehn Jahre jüngeren Demonstranten sah er aus wie ein Polizeispitzel und für die älteren Zuschauer oder Polizisten gehörte er vom Aussehen her ebenfalls nicht hierher. Irgendwie berührte es Rolf eigenartig, heute, fast zwanzig Jahre später, jemanden zu treffen, der damals auch dabei war.

"Vielleicht sind wir uns im AJZ schon begegnet, ich war oft dort, aber du warst doch kaum fünfzehn, musstest du nicht zur Schule?"
"Wegen den Drogen bin ich von der Schule geflogen und dann hat mich auch noch meine Mutter rausgeworfen."
"Und dein Freund Remo, was ist mit dem?"
"Mit ihm hatte ich nach der AJZ-Zeit schon bald keinen Kontakt mehr, später habe ich dann einmal vernommen, dass er an den Drogen gestorben sei, andere behaupten, er habe sich aufgehängt, was soll's, tot ist tot."
Tot sei tot, vor einer halben Stunde nannte sie sich Buddhistin?
"Magst du dich an eine junge Frau erinnern, die sich damals auf dem Bellevueplatz selbst verbrannt hat?"
"Ja, das war Silvia, die lebte auch im AJZ."
Sie habe Silvia gut gekannt, auch deren Freund, der habe Mike geheissen. Es sei schlimm gewesen. Als Silvia brannte und Helfer löschen wollten, sei sie diesen davongerannt. Es habe ausgesehen, als ob sie mit ihnen fang mich spielen würde, wie spielerisch erhaschte sie den eigenen Tod. Sie sei dann aber erst eine Woche später im Spital gestorben und ohne Todesanzeige auf dem Manegg-Friedhof begraben worden.
"Furchtbar, oder sonderbar?"

Silvia war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie am 12.12.1980 öffentlich manifestiert hat, was sie zuvor in einer Szenenzeitung, dem Eisbrecher Nr. 9, angekündigt hatte: Wenn ich's nicht mehr checke, wenn's für mich nicht mehr weitergeht, dann bring ich mich um. Ich zünde mich an, mit Benzin - auf dem Bellevue, damit alle sehen, wie beschissen es einem Menschen in dieser Gesellschaft gehen kann. Ich mach es wirklich - ich bin ehrlich . . .

Nur ein Aussenseiter.
Ich bin traurig. Die anderen sind fröhlich.
Ich weine. Die anderen lachen.
Ich schreie. Die anderen flüstern.
Ich friere. Die anderen haben warm.
Ich bin allein. Die anderen sind zusammen.
Aber ich bin ehrlich, und die anderen sind feige.
Ich sei krank und die anderen seien gesund, behaupten die anderen.
Silvia

Sie sassen einfach da und schwiegen, bis Rolf weiter fragte.
"Und heute? Wie stellst du dir das vor, wie es mit deinem Kokain weitergeht?"
"Ich nehme nur etwas, wenn es mir schlecht geht, ich habe Krebs. Und vor anderthalb Jahren hatte ich einen leichten Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen. Ich musste mühsam wieder gehen und sprechen lernen."
"Das hast du aber super geschafft, davon habe ich überhaupt nichts bemerkt."
"Ich habe auch fest daran gearbeitet und zudem Glück gehabt."
"Aber trotzdem, ich verstehe nicht, wenn du aufhören konntest, warum fängst du denn wieder damit an? Du weisst doch genau aus eigener Erfahrung, wie das weitergeht, du kannst dir das teure Kokain gar nicht leisten."
"Schon, aber im Moment ist mir das alles völlig egal. Ich war viele Jahre drogenfrei. Zehn Jahre ist es her, seit ich in der Klinik Hard in Embrach den Entzug und dann im Aebi-Hus in Leubringen bei Magglingen eine mehrjährige Therapie abgeschlossen habe. Wieder abgestürzt bin ich vor etwa einem Monat, wegen meinem Ex-Freund, einem Tibeter, er arbeitete als Koch im Hotel. Ich kannte ihn schon länger, war total verknallt in ihn, wir waren aber erst seit einem halben Jahr richtig zusammen. Ich liebte ihn sehr intensiv, letztes Jahr waren wir zusammen in Indien. Als es einmal brannte in seinem Zimmer, der Fernseher, zog er zu mir. Er hat angefangen, Kokain zu schnupfen, obwohl er wusste, was früher mit mir los war. Das brachte mich wieder auf den Geschmack. Bald kam es dann auch zu Streit, vor allem, weil er auf einmal nur noch immer Anal mit mir wollte, bis ich einfach nicht mehr konnte, da es jedes Mal mehr weh tat."
Rolf erstarrte schockiert ob der tabulosen Offenheit ihrer Redensart.
"Aber der ist doch nicht normal, immer nur von hinten, und ohne Erholungsphasen für dich? Warum tut der das?"
"Weil es der Frau weh tut, es ist die Verbindung von Liebe, Schmerz und Geilheit, das macht es aus. Jedenfalls hat er mich fallengelassen. Als er auch noch begann, mich zu schlagen, war es ganz fertig, ich lasse mich nicht schlagen und habe ihn rausgeworfen. Ich war völlig am Boden zerstört, habe dann auf der Bank meine Ersparnisse, dreitausend Franken, abgehoben, damit fünfzehn Gramm nicht gestrecktes Kokain gekauft und wieder mit Fixen angefangen, nach zehn Jahren, stell dir das vor. Nun bin ich krank und allein, es geht mir überhaupt nicht gut."
"Und deine Mutter? Schaut sie manchmal nach dir?"
"In letzter Zeit kümmert sie sich nicht gross um mich. Sie hat jetzt einen anderen Namen und wohnt auch in Zürich, im Rütihof. Sie hat nach dem Tod meines Vaters den Richtigen gefunden und ist nun schon seit dreizehn Jahre verheiratet. Mein Ex-Freund hat sie aber ein paar Mal angerufen, um mich schlecht zu machen. Sie selber ist sehr instabil. Wenn sie mich früher besuchte, versteckte ich jeweils mein Methadon, weil sie es einmal probieren wollte, als sie es im Kühlschrank bemerkte. Es interessiert sie schon, was ich mache, aber sie muss auf Distanz bleiben und wird damit nicht fertig."
"Wann nimmst du denn das zweite Mini-Grip, das noch dort auf dem Tisch liegt?"
"Das weiss ich jetzt noch nicht, ob ich es brauche."
"Irgendwie verstehe ich dich, Trix, doch es tut mir auch weh. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich nun gehen, ich muss unbedingt wieder eins rauchen."
Der Kettenraucher Rolf meinte eine Zigarette.
"Du willst eins rauchen, warum sagst du denn nichts? Da fällt mir ein, nein, ich bin so vergesslich, schau hier, ich habe ja noch etwas da zum rauchen."
Sie zeigte Rolf eine Zündholzschachtel, in der sie ein Stückchen gepresstes Haschisch aufbewahrte, gerade genug für einen guten Joint.
"Das habe ich eigentlich behütet für einen speziellen Anlass, wollen wir nicht zusammen noch eins rauchen, ich hätte jetzt Lust dazu."

Rolf hatte schon seit bald dreissig Jahren keinen Joint mehr geraucht. Ohne seine Antwort abzuwarten, hatte Trix bereits den Inhalt einer Zigarette auf ein Papier ausgedreht und erwärmte das Haschisch mit einem Feuerzeug. Dann zermürbte sie ihn, mischte die Krümel unter den Tabak und füllte die Mischung in die leere Zigarettenhülse zurück, die sie dann vorne zudrehte. Mit einem Biss riss sie den Filter heraus und ersetzte ihn durch ein eingerolltes Stücklein Halbkarton, das sie mit der Schere zurecht geschnitten hatte. Fertig, sie reichte den Joint Rolf und meinte, der sei allein für ihn, sie möge doch nicht rauchen. Ob er schon ihre Tätowierung gesehen habe, die sie selber entworfen habe? Sie schlüpfte links aus dem Oberteil und zeigte ihm ihren nackten Oberarm. An der Achsel trug sie ein Tattoo, das ein grünes siebenblättriges Hanfblatt vor einem Gebirgszug und orangeroter Sonne darstellte, darunter die Jahreszahl 1984. Etwas weiter unten war ein chinesisches Schriftzeichen in schwarz tätowiert, das sei ein Om, sagte sie. Rolf zündete den Joint an, steckte ihn zwischen Zeig- und Mittelfinger, ballte die Hand zur Faust und deckte mit der anderen Handfläche die Finger ab. Dann sog er durch die beiden Hände den Rauch direkt in seine Lungenflügel, worauf ihn ein Hustenanfall daran erinnerte, dass er sich das nicht mehr gewohnt war. Langsam rauchte er den Joint und versuchte dabei, an früher zu denken, was ihm aber nicht gelang. Einzig der leicht beissende Geruch des verbrannten Haschisch schien ihm eine behagliche Erinnerung zu wecken. Vor allem aber wurde Rolf müde, er begann zu gähnen und musste sich ständig durchstrecken. Trix fragte interessiert, ob er etwas spüre. Nein, er bekomme nur Lust zu schlafen, sonst merke er gar nichts, er wolle nun nach Hause gehen und sich hinlegen.
"Ich schreib dir noch meine Telefonnummer auf, falls du mich einmal anrufen möchtest, es würde mich freuen."
Sie gab Rolf einen Zettel mit Adresse und Telefonnummer.
"Trix, danke, dass du mich an dem hast teilhaben lassen, was du tust."
"Tschau Rolf, sag deiner Frau einen Gruss von mir."
"Das kann ich doch nicht."
"War auch nicht ernst gemeint."
Sie blinzelte vergnügt. Ironie, Sarkasmus und Zynismus im Sinne von anzüglichem, aber humorvollem Spott schienen ihr ebenfalls zu liegen.
"Ich komme noch mit runter, falls die Türe geschlossen wäre."
"Nicht nötig, dann komme ich nochmals rauf, tschau Trix."

Es war inzwischen einiges später als sonst, als sich Rolf auf den Nachhauseweg machte. Die starken Eindrücke der letzten Stunden, die er mit Trix erlebt hatte, nahmen ihn vollständig gefangen. Vor allem auch wegen den emotionalen Parallelen zu anderen Kokainabhängigen, die er schon kannte. Es war schlicht phänomenal. Viele waren vergleichbar im stolzen, herrschenden Typus eines nahezu absoluten, königlichen Egoismus anzusiedeln und praktizierten fast eins zu eins diese schmerzvolle, zudem auf nicht praktizierbare Reinlichkeit bedachte Praxis der langwierigen Stecherei und blutigem pumpen.

Am nächsten Nachmittag, als Rolf wieder ausgeschlafen war, fand er auf seinem Handy die Nachricht von vier unbeantworteten Anrufen vor, alle von Trix. Rolf rief zurück und erreichte sie zu Hause. Sie wollte gleich etwas mit ihm abmachen für diesen Nachmittag, sie wäre so alleine und möchte mit ihm etwas trinken gehen. Rolf erklärte ihr, dass für ihn jetzt erst früher Morgen wäre und er frühestens gegen acht Uhr abends wieder von zu Hause weggehen würde.

Rolf war froh, dem voraussehbaren, für ihn erfahrungsgemäss recht anstrengenden Kontragespräch, warum er ihr kein Geld für Drogen geben würde, vorerst entgangen zu sein. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Zehn Tage später, Rolf war kurz vor zwanzig Uhr gerade in seinen Taxi gestiegen, um mit der Arbeit zu beginnen, rief Trix ihn an, lud ihn auf einen Tee zu sich nach Hause ein und bat um den kleinen Gefallen, Zigaretten, Marlboro Gold, mitzubringen. Für Rolf war klar, nun war es so weit, sie wollte Geld von ihm, bloss weil er sie gutmütig von sich aus auf Kredit nach Hause fuhr, sollte er nun auch noch gleich als mitleidiger Trottel herhalten. An einer Tankstelle mit Kiosk kaufte er unterwegs zwei Packungen Zigaretten und noch einen Schokoladenriegel. Er läutete bei ihr und sie warf ihm vom Treppenhausfenster aus dem zweiten Stock ihren Schlüsselbund auf den Rasen hinunter. Oben empfingen Rolf im Treppenhaus zwei herzige Hunde, nur wenig grösser wie Hauskatzen, ähnlich Pekinesen, aber wie mit einem leichten Boxereinschlag, es seien Tibetaner. Trix öffnete die angelehnte Wohnungstüre und bat Rolf hinein. Dieser wusste nicht recht, ob er den Hunden den Vortritt lassen müsste, womöglich würde ihn einer von hinten in die Wade beissen? Trix merkte, wie er zögerte und rief ihre beiden Lieblinge, Dibi und Gismo, hinein. Dann begrüsste sie Rolf mit einem gehauchten Küsschen links und einem rechts, das dritte verharrte im Zaudern.

"Du siehst gut aus, Rolf."
"Danke, und du, Trix, geht es dir gut?"
"Jetzt geht es mir wieder besser, ich lag nun eine Woche lang im Bett, es ging mir total schlecht, aber im Moment geht es wieder."
Rolf trat ins Zimmer, in seinen Schuhen, es schien sie diesmal nicht zu stören.
"Willst du den Kittel nicht ausziehen?"
"Danke, im Moment nicht, mir ist etwas kalt."
Sie räumte die Stofftiere vom Sessel, damit Rolf Platz nehmen konnte. Auf dem sauber abgeräumten Tischchen lag allein ein Faltblatt. Rolf hob es auf und las laut vor.
"HIV- und Aidsprävention, bist du positiv?"
"Nein, ich habe immer aufgepasst, schon damals, bevor man von Aids wusste, wegen der Hepatitis. Das war in meinem Briefkasten. Ich habe dort angerufen, damit sie mir jemanden schicken würden zur Hilfe im Haushalt, ich bin so schwach, ich kann fast nichts mehr selber machen. Die haben aber gesagt, dafür wären sie nicht zuständig, da müsste ich mich an die Spitex wenden. Ich habe nun zwei Wochen nicht arbeiten können und wollte dich fragen, ob du mir aushelfen könntest mit hundertfünfzig Franken, ich habe überhaupt keinen Rappen mehr und bekomme erst nächsten Montag wieder Geld, dann würde ich es dir auch zurückgeben."
Obschon Rolf darauf vorbereitet war, verschlug ihm ihr Ansinnen zuerst einmal die Sprache, wie immer, wenn er so brandschwarz angeschwindelt wurde. Trix gewährte ihm seine Denkpause. Sie ging in die Küche und fragte von dort, ob er auch einen Tee oder lieber einen Orangensaft nähme.
"Ich nehme das gleiche wie du auch."
Sie brachte zwei Tassen mit Teebeutel, das heisse Wasser goss sie dann direkt aus der Pfanne auf. Als sie einmal aus der Küche zurückkam, hatte Rolf den Eindruck, sie würde sich leicht zusammenkrümmen beim Gehen.
"Hast du Schmerzen?"
"Bauchkrämpfe, darum will ich auch einen Tee trinken."
"Hast du Schmerzmittel im Haus?"
"Ja, ich habe Medikamente, Methadon und anderes."
"Bist du denn im städtischen Methadonprogramm für Abhängige?"
"Nein, das verschreibt mir mein Arzt, als Schmerzmittel, wegen dem Krebs."
"Ah ja? Das habe ich jetzt aber noch nie gehört. Und seit wann nimmst du das?"
"Schon viele Jahre."
Sie holte noch Aschenbecher und Zigaretten, vor zehn Tagen hatte sie gesagt, in ihrem Zimmer würde nicht geraucht, doch nun zündete sie sich eine an. Zwischendurch musste sie aufs Klo, ein extrem fauliger Gestank breitete sich bis ins Zimmer aus, sie entschuldigte sich dafür, als sie zurückkam.
"Was meinst du, könntest du mir aushelfen, ich wäre so froh, wenn ich nur etwas Geld für Haushalteinkäufe hätte."
"Schau Trix, du weisst doch so gut wie ich, dass ich dir kein Geld für Kokain geben darf, oder nicht?"
"Du bekommst es ja schon am Montag wieder zurück."
"Ich weiss doch so gut wie du, wie das läuft, klar, du willst es zurückgeben, jetzt, aber wenn du es dann solltest, hast du gar nicht genug Geld, um all deine ehrlich gemeinten Versprechen einzulösen."
"Aber was soll ich denn machen?"
"Hier bleiben und kein Kokain holen, oder darf ich dich zum Essen einladen?"
"Ich möchte unbedingt etwas einkaufen gehen."
"Wir können auch mit den Hunden spazieren gehen, zwei Stunden lang, da kommst du auf andere Gedanken?"
Sie lachte Rolf aus, wie seine fünfzehnjährige Tochter ihre Mutter, wenn diese ihr an einem schulfreien Nachmittag einen solchen Vorschlag machen würde.
"Zwei Stunden laufen, nein, so etwas."
"War auch nicht mein Ernst, ich fahre selber auch lieber mit dem Auto."
Trix machte jetzt einen müden und niedergeschlagenen Eindruck, Rolf hatte soeben eine ihrer Hoffnungen zerstört. Mit einem trotzigen Unterton sagte sie, dann müsse sie eben an die Langstrasse, Umschau halten, vielleicht treffe sie jemanden, den sie kenne und von dem sie etwas kriege oder sonst müsse sie einen Freier suchen, ob er sie wenigstens hinfahren würde. Rolf wechselte seinen Sitzplatz zu ihr auf die Bettkante und nahm ihre Hand.
"Letztes Mal hast du mir doch gesagt, du würdest nicht anschaffen gehen?"
"Schon, aber was soll ich denn machen, wenn du mir nicht aushilfst?"
Rolf liess sich nicht einfach unter Druck setzen. Was würde sie denn tun, wenn jetzt nicht zufällig er da wäre? Sonst kam sie doch auch ohne ihn zu ihrem Geld.
"Auf das Kokain verzichten, lass es einfach bleiben."
"Das kann ich nicht, ich will mein Leben jetzt noch ein wenig geniessen."
Das war nun ein Argument, mit dem Rolf nicht klar kam. Falls sie wirklich unheilbar Krebs hatte, wer wollte ihr das Kokain verargen, ihr als einer todgeweihten Frau? Nach Rolfs eigener Weltanschauung begann das normale Sterben bereits mit der Geburt, er selber verkündete bei Gelegenheit, Geburt und Tod bedingten sich gegenseitig, seien bloss zwei verschiedene Ausdrücke eines einzigen Impulses, sonst wäre, folgerichtig, aber unvorstellbar, das Leben dazwischen die tödlichste aller Krankheiten. Wo sollte er jetzt seine Grenze setzen zwischen normal und ihrem wie einem letzten Wunsch klingenden Anliegen?
"Also gut, Trix, damit du mich nicht umsonst angerufen und eingeladen hast, gebe ich dir ein klein wenig, aber nur ausnahmsweise."
Kaum ausgesprochen, war Trix wie verwandelt. Gerade noch niedergeschlagen traurig, mit erschlaffenden Augenliedern, die manchmal halb geschlossen waren, und dann, schlagartig überglücklich, mit funkelnden und wieder Lebenslust versprühenden Augen.
"Ehrlich, du gibst mir etwas?"
"Nur ausnahmsweise und einmalig, wie viel müsstest du denn zumindest haben?"
"Dreissig Franken, mit vierzig hätte ich aber schon mehr davon."
"Abgemacht, ich gebe dir vierzig. Trix, du solltest dich sehen können, wie du jetzt zu neuem Leben erwacht bist."
"Das ist die Gier, jetzt hast du mich gierig gemacht, nun geht es mir wieder gut, ich ziehe mich gleich um, damit wir gehen können."
Sie erinnerte Rolf an frühere Erlebnisse mit seinen Kindern, als diese noch klein waren und sich zwängend selber ins Elend steigern konnten, bis vom Vater, der Mutter oder sonst eben von anderen die Erlösung kam. Drogenabhängige verhalten sich manchmal, wenn sie Geld wollen, ähnlich wie kleine Kinder, die trotzen und zwängen. Kurz bevor sie gingen, nahm Trix aus dem Kleinmöbel neben ihrem Bett noch Tabletten, welche sie trocken schluckte. Rolf sah, nebst anderen, eine Grosspackung des Barbiturats Revonal, einem starken Betäubungsmittel.
"Wozu nimmst du denn diese Medikamente?"
"Ich habe Krebs, aber das habe ich dir doch gesagt, dass ich Blutkrebs hätte?"
"Mag sein. Hat man Leukämie nicht jünger als du bist?"
"Auch Erwachsene können das, wie ich, plötzlich bekommen."
"Seit wann hast du das denn schon?"
"Ich weiss es seit acht Jahren, aber erst seit kurzem wird es immer schlimmer."
"Ich bewundere dich, wie locker du damit umgehen kannst, wo du diese Kraft her hast, bist du in Behandlung?"
"Ja, ich bin manchmal im Light House, danach geht es mir jeweils wieder besser, letzte Woche hätte ich wieder hin sollen, zu meinem Arzt, Ruedi Lüthy, aber ich mochte nicht. Ich bin vielleicht ein bisschen stärker als viele andere, aber mehrheitlich geht es mir schon schlecht. Oft, wenn ich spüre, wie mich der Krebs auffrisst, dann möchte ich einfach nicht mehr leben."
Rolf wollte ihre Vorfreude über den Kokainkonsum nicht noch mehr stören und verzichtete darauf, sie jetzt in eine Diskussion über Aids und Sterben zu verwickeln. Das Light House, welches sie erwähnte, war eine private Trägerschaft, die an der Carmenstrasse sechzehn Einzelzimmer für kranke Aidsinfizierte, aber auch für Krebskranke, anbot. Es war eigentlich kein Spital, sondern ein Sterbehospiz. Bis im Jahre 1986, als der Kanton Zürich das Spritzenabgabeverbot aufhob, waren die Nadeln in der Szene Mangelware und wurden unter den Fixern getauscht, beste Voraussetzungen, um durch den direkten Blutkontakt nebst anderem auch das Aids-Virus zu übertragen. Auf der Gasse selbst wurde Aids erst ab 1987 zum Thema, für viele Drogenabhängige, aber auch für viele Freier, zu spät.

Trix nahm ihre beiden Lieblinge mit. Rolf fuhr sie an die Langstrasse und parkierte an der Neugasse, wo er zusammen mit ihren Hunden auf ihre Rückkehr warten sollte.
"Schön brav warten, Schätzeli", sagte sie ihnen zum Abschied.
"Sicher. Aha, du meinst gar nicht mich?", scherzte Rolf.
"Aber du wartest ganz sicher?"
"Muss ja wohl, mit deinen Hunden, oder meinst du, ich würde sie da vorne im chinesischen Restaurant verkaufen, die Chinesen essen doch Hunde, oder?"
"Du bist aber gemein".
Sie lachte trotzdem. Da sass nun Rolf, der von Hunden keine Ahnung hatte, mit den beiden im Auto und musste warten. Die Tibetaner verhielten sich zum Glück für ihn aber eher wie Hauskatzen. Einer krüllte sich am Boden zu einem Knäuel zusammen, der andere platzierte sich auf der Ablage hinter dem Rücksitz. Gismo kam einmal zu seinem Oberschenkel und wollte zwischen diesem und dem Steuerrad auf seinen Schoss klettern, was er aber ablehnte, indem er seinen Arm dazwischen hielt. Er überlegte sich, ob er wohl mit den Tierchen sprechen sollte. Aber was denn? Die hatten ihm ja scheinbar auch nichts zu sagen, und so liess er das bleiben. Nach vielleicht zehn Minuten kam Trix mit einem Mini-Grip zurück. Weil sie gerannt war, kriegte sie nun fast keine Luft mehr zum Atmen, wegen ihrem Asthma. Auf dem Rückweg nach Hause sah sie das Plastik-Säckchen mit dem weissen Pulver mehrmals an, schüttelte es dabei durch und sinnierte, hoffentlich sei das gute Ware, sie habe den Verkäufer nicht gekannt. Rolf durfte diesmal von nahe, neben ihr auf dem Bettrand sitzend, zusehen, wie sie sich die Spritze machte. Es war das gleiche Ritual wie letztes Mal. Wie er erwartet hatte, verspürte sie von der geringen Menge kein richtiges Flash, sie sagte, es wirke zu wenig, aber immerhin, nun könne sie in Ruhe weiter schauen, sie werde telefonieren, ob sie irgendjemanden erreichen könnte, der ihr helfen würde. Es war inzwischen bald zehn Uhr geworden und Rolf verabschiedete sich, um endlich mit seiner Arbeit als Taxifahrer beginnen zu können.

In der gleichen Nacht rief Trix ihn um vier Uhr morgens wieder an und fragte, ob er vorbeikommen könnte. Sie müsse nochmals hinaus, sie brauche noch etwas, ob er sie zur Langstrasse bringen könnte. Ihre beiden Hündchen liess sie in der Wohnung, die würden jetzt schlafen. Hinter dem Hotel Gregory, an der Neufrankengasse, liess sie Rolf warten, sie gehe sich nur schnell umschauen, ob jemand da wäre, den sie kennen würde, wenn nicht, käme sie gleich wieder. Ihm war nie ganz wohl in dieser Umgebung des Drogenhandels, er vermutete überall versteckte Überwachungs-Kameras der Polizei. Das Taxischild hatte er im Kofferraum deponiert, und trotzdem, immerhin fuhr er hier mit einer Drogenabhängigen vor und wartete auf ihre Rückkehr. Ein paar Minuten später kam sie auch schon zurück und setzte sich zu ihm ins Auto, ganz aufgeregt, als ob sie gute Neuigkeiten hätte, sie erzählte, da vorne habe einer ein selten gutes Super-Kola, ob er ihr nicht rasch fünfzig Franken ausleihen könnte, damit sie diesen Gelegenheitskauf nicht verpassen würde. Rolf sagte nichts, bewegte nur seinen Kopf verneinend langsam hin und her.
"Bitte, bitte, bitte, nur fünfzig, bitte, bitte, bitte."
Bettelte sie und unterstrich ihre Dankbarkeit durch ein, mit einem spitzigen Mündchen angedeuteten, Küsschen aus der Ferne. Sie kann das überwältigend gut, Mimik und Gestik stimmten perfekt überein.
"Hör doch auf, Trix, warum sollte ich dir einfach so Geld geben?"
Sie zögerte einen Moment, und dann, ganz leise flüsternd, bot sie sich ihm an.
"Ich kann dir dafür schon etwas machen, wenn du willst."
"Du hast doch gesagt, es würde dich ekeln mit fremden Männern?"
"Schon, aber dich kenne ich nun, mit dir würde es mir nichts ausmachen."
Rolf wollte sie nicht verletzen durch seine Ablehnung.
"Mir auch nicht, glaub mir, aber ich bin kein Freier."
"Dann muss ich eben schauen, ob ich sonst jemanden finde."
"Schon, es tut mir leid, Trix, ich kann das nicht, komm, ich fahr dich nach Hause, das ist doch viel gescheiter."
"Nein, das kann ich nicht, ich brauche jetzt etwas, kannst du mir wirklich nichts geben? Du hast doch genug und ich habe nichts."
"Nein Trix, wenn ich irgendetwas Kluges für dich tun kann, sofort, aber einfach nur Geld für Drogen, das mache ich nicht."
"Dann muss ich eben doch anschaffen gehen."
"Wirklich? Hast du keine Bedenken, wegen ansteckenden Krankheiten und so?"
"Ich mache keinen Verkehr, nur französisch und nur mit Gummi, für hundert Franken."

Das kann sie vergessen, dachte Rolf für sich, er kannte den Drogenstrich, dort kommt zu ihrer eigenen Gier noch die andere Gier der Männer dazu. Sie weinte inzwischen leise in sich hinein. Rolf legte seine Hand auf die ihre, ertastete ihre Finger und sie hielten sich gegenseitig, fest.

"Ich kann dir nicht helfen, soll ich dich noch nach vorne zum Limmatplatz fahren?"

Sie nickte bloss und schluchzte nun wirklich. Rolf fuhr mit ihr an den Limmatplatz. Es war schon so, in ihrer endlosen Gier wollte sie nun anschaffen am Drogenstrich, einen Freier suchen, krank und schwach, wie sie war. Sie stieg aus, die Enttäuschung war ihr anzusehen, und doch, sie sagte zu Rolf, ihre Tränen abwischend, er solle sie mal anrufen, das würde sie freuen. Und dann winkte sie ihm auch noch, als er wegfuhr. Rolf hat sie nie angerufen und auf seinem Handy ihre Nummer blockiert.

Trix war in der Folge ab und zu auf dem Drogenstrich zu sehen, aber eher selten, nur sporadisch. Rolf sah sie manchmal im Vorbeifahren, ohne dass sie ihn bemerkte, und registrierte, wie sie anfänglich gegen zwei Stunden unterwegs war, bis sie Erfolg hatte, was nur mit einem hohen Preis erklärbar ist, da sie für einen älteren Mann ohnehin eine attraktive junge Frau darstellte. Doch auch Trix passte sich rasch an. Eines Nachts kam sie überraschend um eine Hausecke und setzte sich, vor Freude strahlend, zu Rolf in den wartenden Taxi, um ihm zu erzählen, jetzt hätte sie in einer Stunde hundertfünfzig Franken gemacht, das sei doch gut, oder? Was sie denn dafür gemacht habe, wollte Rolf wissen. Alles, das könne er sich doch denken. Nein, sie solle etwas deutlicher werden. Sie schilderte Rolf freizügig, zuerst habe sie einen jüngeren Freak gehabt, der kiffte, bei lauter Musik im Auto für fünfzig Franken oral. Sie mache das jetzt nur noch ohne Gummi, weil sie vom Geschmack der Präservative so etwas wie eine Schlucksperre bekomme. Dann habe sie mit einem sehr gepflegten Herrn, René heisse er, für hundert Franken Verkehr gehabt im Auto. Der habe ihr seine Visitenkarte gegeben und möchte mit ihr zusammen die kommenden Festtage verbringen, er wäre auch allein wie sie, den werde sie bei Gelegenheit von zu Hause aus anrufen.

Das hörte sich nun schon nach dem vermeintlich grossen Geschäft an, das zur Finanzierung einer Kokain-Abhängigkeit (Kokainsucht) aber unabdingbar von Nöten ist. Als ob Rolf ihr Vater wäre, fragte ihn Trix, allerdings sein gar nicht erforderliches Einverständnis in der Tonlage bereits berücksichtigend, nun dürfe sie doch schon Kokain kaufen für hundert Franken, fünfzig werde sie aber behalten für Haushalteinkäufe. Rolf musterte sie lange von der Seite, weil er den Eindruck hatte, sie wäre jetzt, zehn Minuten nach dem Kontakt mit einem Freier, wie verwandelt. Sie wirkte zufrieden, ein bisschen selbstgefällig verträumt und strahlte eine anziehend feminine Aura aus, die ihr sonst eher fehlte. Geld haben oder nicht - das macht hier den Unterschied.