Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Drogenstrich Zürich 1998

Die im vorherigen Kapitel "selber schuld" geschilderte Erfahrung hatte den Taxifahrer Rolf nachhaltig sensibilisiert, auch im Zusammenhang mit der andauernden politischen Diskussion in den Medien um die kontrollierte Heroin-Abgabe an Süchtige. Seit Jahren lief nun ein kontrovers diskutierter Versuch nach der Schliessung der offenen Drogenszenen (Platzspitz 1992, Letten 1995). Rolf merkte plötzlich, über die Hintergründe der Sucht nach harten Drogen wusste er so gut wie gar nichts.

Selbst für ihn als Taxifahrer, der durch seine Tätigkeit zwangsläufig über ein weit geöffnetes Fenster zur Wirklichkeit hin verfügte, war der Drogenstrich während Jahren ein bekanntes Unbekanntes wie für die meisten auch. Man sieht zwar im Vorbeifahren die an der Strasse stehenden Mädchen und Frauen, sieht sie vielleicht kurz interessiert an und schon sind sie weg, nur noch verschwommen im Rückspiegel, die einsamen Geschöpfe, die so etwas tun, warum auch immer.

In der Stadt Zürich gab es im Jahre 1998 den zur verdeckten Drogenszene gehörenden Drogenstrich offiziell eigentlich gar nicht. Die Prostitution auf der Strasse war grundsätzlich verboten und wurde repressiv bekämpft, ausgenommen in den von der Stadtverwaltung im Strichplan festgelegten Zonen. Diese Strassen wiederum waren fest in der brutalen Gewalt der organisierten Zuhälterei aus dem Rotlicht-Milieu.

Der die Jahrzehnte überdauernde inoffizielle Mindestpreis für sexuelle Dienstleistungen lag damals bei hundert Franken, fünfzig Franken für orale Befriedigung. Das zunehmende Angebot von nach Geld suchenden Drogensüchtigen führte aber auch zu Tiefstpreisen. Im erweiterten Umfeld der Drogenszene war die Anwerbung von Männern durch süchtige Frauen allgegenwärtig:

An einem frühen Nachmittag, sonnig und warm. Die Fussgängerin spaziert am parkierten Taxi vorbei, kehrt weiter vorne wieder um und geht zurück. Rolf schaut sie an und die junge Frau kommt direkt zum offenen Wagenfenster.
"Warten Sie auf jemanden?"
Rolf antwortet amüsiert.
"Warum willst du das denn wissen?"
"Einfach so, ich habe kein Geld und dachte, wir könnten etwas machen."
"Was meinst du mit etwas machen?"
"Ein wenig blasen oder so, möchtest du?"
"Du, eigentlich nicht. Ich bin jetzt bei der Arbeit zum Geld einnehmen und nicht beim Geld ausgeben."
"Weisst du, ich brauche dringend ein bisschen Geld, möchtest nicht etwas machen für fünfzig."
Rolf lacht.
"Nein, sowieso, ich bin doch kein Millionär."
"Also gut, ich würde dir eins blasen für dreissig."
Ihr flehender Blick will Rolf hypnotisieren. Er schaut in ihre Augen. Lange, wortlos.
Sie flüstert. "Zwanzig?"
Die spinnt doch, denkt sich Rolf. Zwanzig Franken, das kostet die durchschnittliche innerstädtische Taxifahrt von wenigen Minuten mit vier Kilometern.
"Wie alt bist du eigentlich?"
"Sechsundzwanzig,"
"Dann könnte ich vom Alter her dein Vater sein. Ich habe dich in Zürich noch nie gesehen?"
"Ich wohne in Uster. Schau, ich habe nur noch drei Franken bei mir, kannst du mir nicht etwas geben, vielleicht zehn Franken?"
Ein Geldstück fällt zu Boden, unters Auto. Rolf steigt aus zum suchen.
"Ich kann doch nicht einfach Geld verteilen. Hast du eine Ahnung davon, wie viele hier in der Gegend immer nichts haben und etwas von mir wollen?"
Rolf findet den Franken unter dem Auto.
"Ich möchte ja nur etwas kleines, bitte sei so gut."
"Dann geh doch nach vorne zum Limmatplatz und suche gleich etwas rechtes. Das bringt dir ja nichts, wenn du so billig an mich verkaufst für zwanzig Franken."
"Das mache ich nicht, ich gehe nicht auf den Strich."
"Aber warum fragst du denn mich an, obschon ich nichts will?"
"Ich will nur für morgen etwas, weil ich eine wichtige Sache zu erledigen habe und mich zusammen nehmen können muss. Im Moment bin ich arbeitslos und erhalte Geld, wenn ich mich regelmässig bei der Arbeitsvermittlung melde. Ich mache das sonst nicht, aber dir vertraue ich auf Anhieb, du machst auf mich einen guten Eindruck."
"Sicher, ich bin ein Familienvater der weiss was sich gehört und was nicht."
"Ich wäre so froh, bitte, ist doch nichts dabei, komm, nur zwanzig Franken, ohne Gummi. Du musst keine Angst haben, es kann dir ja nichts geschehen."
Sie schaut Rolf fast ununterbrochen in die Augen, flehend, bettelnd.

Immer wieder. Sie offeriert ungeschützt ohne Kondom. Unfassbar, dieser leichte Sinn, die Realität von übertragbaren Keimen ausser Kraft zu setzen. Zum Erbarmen und zum Heulen.

Die drogensüchtigen Frauen und Mädchen waren stets an den gleichen Orten anzutreffen, allgemein bekannt und verboten, ausser während Polizeiaktionen, was kurz zu totaler Absenz und einer sofort regen Zunahme des vergeblich suchenden Verkehrs der Freier mit dem Auto führte. Diese inoffiziellen Plätze auf öffentlichem Grund befanden sich an den stark frequentierten Strassenzügen hinter dem zentral gelegenen Hauptbahnhof. Mit Ausläufern in Querstrassen und Hinterhöfe.

Zwischen etwa drei bis sechs Uhr morgens lag die Stadt unter der Woche während fünf aufeinander folgenden Nächten im Tiefschlaf, selbst wenn neuerdings vereinzelte Lokale bis vier Uhr geöffnet waren. Ausser den omnipräsenten Taxis und vereinzelten Privatfahrzeugen bewegte sich manchmal schon nach ein Uhr früh fast gar nichts mehr. Doch im Quartier um die obere und untere Langstrasse blieb es lebhaft. Die Drogenszene sowieso rund um die Uhr, zivile Polizeifahrzeuge, das Rotlichtmilieu, der Drogenstrich, Frauen, Mädchen. Freier, Gaffer und Betrunkene. Bei jedem Wetter, zu Fuss oder motorisiert.

Ein augenfälliger Unterschied im Vorgehen der Polizei konnte allerdings registriert werden: Gegen die vorwiegend aus Lateinamerika und Afrika stammenden illegal draussen wartenden Prostituierten an der oberen Langstrasse im Kreis 4 wurden die Gesetze rigoros meist täglich durchgesetzt, während der zur Drogenszene an der unteren Langstrasse gehörende Drogenstrich ein toleriertes Schattendasein zu fristen schien.

Wenn die Polizei wieder verdeckte Erhebungen für eine neue Aktion machte, blühte das verbotene Geschäft richtig auf. Um dann plötzlich wie auf einen Schlag still zu stehen. Mit der Zeit bemerkte Rolf auch die Unterschiede in der kriminalpolizeilichen Tätigkeit. Erkennbar durch die Konzentration personeller und logistischer Kräfte auf einen ganz bestimmten Punkt. Rolf konnte sich mit seinem Flair für Zahlen die Auto-Nummern der ständig kursierenden zivilen Kripo-Fahrzeuge mühelos einprägen. Je nachdem, ob Händler, Konsumenten, Freier oder Stricherinnen ins Visier genommen wurden, ergaben sich typische Bilder der Gesamtsituation.

Die Neugier, den Dingen auf den Grund zu gehen, war geweckt. Rolf änderte sein Verhalten gegenüber zufälliger Kundschaft aus der Drogenszene, er sprach sonst Fahrgäste grundsätzlich nicht von sich aus an, und begann zwanglos Gespräche zu führen während solcher Fahrten. Überrascht war Rolf, wie unbekümmert und offen Drogensüchtige ihm von ihren Erfahrungen, Sorgen und Nöten berichteten. Durch gelegentlich kostenloses mitfahren lassen war er bald mit vielen bekannt.