Biografie von Rolf Pfister in Zürich


Ausblick

Inwiefern beschäftigt mich der Gedanke an meine Endlichkeit und seit wann?

Die Endlichkeit der Lebewesen erschloss sich mir seit früher Kindheit von selbst durch gelebte Erfahrung. Zum Beispiel wurde den Mäusen im Haus und auf dem Feld mit Tod bringenden Fallen nachgestellt. Im Wasch-Haus sah ich den Grossvater bei der Tötung von Hühnern und Kaninchen zwecks Verarbeitung zur Nahrung. Die Anzahl der Katzen auf dem Hof musste reguliert werden. Erstmals einen richtigen Menschen als Leiche sah ich erst mit 18, als mein Grossvater wie schlafend in seinem Bett gefunden wurde.

Durch Schul-Bildung lernte ich, auch der Mensch gehöre zur Biologie auf der Erde mit ihrer Pflanzen- und Tierwelt. Das biologische Funktions-Prinzip sei Selbststeuerung durch Rückkopplung der Erneuerung mit Mutation und Selektion. Mein Anfang und mein Ende mit Geburt und Tod als Person sind demzufolge lediglich Umwandlungen von leblos zu lebendig und umgekehrt. Soweit alles klar, wäre mir da nicht als Jugendlicher ein kulturell transportierter Denkfehler in die Quere gekommen. Nämlich die Behauptung, alles würde oder müsste einen Anfang haben. Die eine Seite redet von Schöpfung, die andere Seite von Urknall. Beides halte ich für gleichermassen falsch, weil zeitlose Gegenwart weder einen Anfang noch ein Ende haben kann. Sie ist, ganz einfach, schon immer für ewig. Was beständig stattfindet, ist die physikalische Umwandlung.

Alte westeuropäische Sterbe- und Begräbnisrituale stützen die Annahme eines einst unkomplizierten Umganges mit der Umwandlung von lebendig zu leblos:

In einigen Gegenden Englands hing ein heiliger Hammer, der holy mawle, hinter der Kirchentür, und es wird erzählt, dass der Sohn, dessen Vater älter als 70 Jahre war, das Recht hatte, ihn damit zu töten. Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass solche Bräuche wirklich praktiziert worden sind, vor allem in Gesellschaften, in denen man sich keine überflüssigen Mäuler leisten konnte. (Quelle: Jean Markale - Die Druiden, 2.2.D. Der Allvater, Seite 54).

Mein Vater wusste und erzählte noch von der Sitte der Bauern bis in jüngerer Zeit auf abgelegenen Einzel-Höfen, den dauerhaft bettlägerigen Alten im Stöckli, dem allein stehenden Auszugshaus, im kalten Winter mit Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt eines Nachts bei offenen Fenstern das wärmende Feuer ausgehen zu lassen, damit diese sanft entschlafen konnten.

Unter dem Oberbegriff der Humanität figuriert heute das Leben an sich wie etwas unantastbar Heiliges. Das unvermeidliche Sterben selber rückte dadurch in den Hintergrund. Ganze Generationen haben versäumt, kulturell verursacht, sich rechtzeitig mit ihrer eigenen Endlichkeit zu befassen und werden einfach älter, bis sie wehrlos und fremdbestimmt sind. Leben retten um jeden Preis ist die Losung, meist zu Lasten der Allgemeinheit. Eine vorzügliche Geschäfts-Grundlage für religiöse und Nichtregierungs-Organisationen (NGO) einerseits und andererseits ein Selbstläufer für den Betrieb von Pflege und Betreuung mit steigenden Kosten der obligatorischen Krankenkasse. Als ob älter werden mit krank gleich zu setzen wäre.

Ich habe diese Zusammenhänge jetzt erlebt mit meinem Vater, welcher nach einer sich langsam entwickelnden, vom Alter bedingten Demenz 90-jährig mit der Diagnose Alzheimer 2010 in ein Pflegeheim eingewiesen wurde. Für diese Pflege wurden bis zu seinem Tod 2017 für 82 Monate total 1'083'220 Franken in Rechnung gestellt. Mit seiner Rente konnte er davon 21% selber bezahlen, weitere 22% übernahm die Krankenkasse und für 620'166 Franken (57%) musste die Gemeinde, die Allgemeinheit aufkommen.

Klar ist jede verstorbene Person ein Verlust für die Kosten-Erfolg-Rechnung anderer, aber was da nebst der unstrittig wichtigen und wertvollen Pflege und Betreuung praktiziert wird am Lebensende von nicht mehr urteilsfähigen alten Menschen, das hat mit meiner Vorstellung von einer Würde nichts mehr zu tun.

Das Pflege-Personal, ausgebildet und kompetent, leistet in gutem Glauben das Beste. In Team-Sitzungen wird gefeilt an Konzepten für ein (vermeintlich) möglichst menschenwürdiges Dasein ihrer Patienten. Alles gut, zweifellos, jedoch bin ich mir sicher, mein wehrloser Vater, bis vor kurzem ein stolzer Mann, zwar nicht entmündigt, aber auch nicht mehr urteilsfähig, wollte weder gewickelt noch geschöppelt werden. Nachdem er mich nicht mehr als seinen Sohn erkannte und auch nicht mehr wusste, wer er selber ist, habe ich ihn im Elend nie mehr besucht und halte ihn dafür in bester Erinnerung. Als den Mann, welcher mich zeugte.

Mein Dank gebührt aber vor Allen meiner Mutter, die mich austrug, nebst all den ungezählten Millionen von Vorfahren in deren sozialen Gemeinschaften, welche mein Dasein im Hier und Jetzt erst ermöglicht haben. Früher landete ich manchmal im trunkenen Elend, wenn ich diese ungeheuerliche Bürde als Last fühlen konnte.

Was sind meine konkreten Vorkehrungen mit Blick auf mein Lebensende?

Wir haben unsere Patienten-Verfügungen (nach Vorlage aus dem Internet) mit dem Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen bei bestmöglicher palliativer Behandlung ergänzt mit dem Zusatz:

Für den Fall einer fortgeschrittenen Demenz verlange ich, dass mir keine Nahrung und Flüssigkeit mehr eingegeben wird, sobald ich mir diese nicht mehr selbst zuführen kann. Ab dann verlange ich eine ausreichende Sedierung. Das alles gilt auch dann, wenn reflexartiges Verhalten von mir als Ausdruck von Hunger oder Durst gedeutet werden könnte.

Ich werde einfach einschlafen und für immer schlafen, bloss umgewandelt von lebendig zu leblos im Wissen: in der physikalischen Wirklichkeit kann nichts verloren gehen.